Neun volle Heliosläufe sind nun bereits vergangen, seit ich mit ein paar Münzen meine Überfahrt nach Heligonia erkaufte. Ich tat was nötig war und an manchen Tagen scheint es, als wäre ich gänzlich eine andere geworden. Doch die Ereignisse von damals sind noch eingebrannt in mein Herz. An Tagen wie heute, wo Helios so kräftig vom Himmel herabglänzt und Xurls Winde einen feinen, salzigen Hauch mit sich tragen, steigt in mir die Erinnerung hoch an die Verzweiflung und unermessliche Hoffnung, die mich damals hierher brachte. Und so will ich in Kürze schildern, wie es mir seither ergangen ist.
Das Land betrat ich im Hafen Darbors. Zwischen schäbigen, mir riesig erscheinenden Kaschemmen, dem unendlichen Gewirr der Gassen und dem Lärm und Geschrei und Gestank der Einheimischen kann ich nicht mehr genau sagen, wie ich die ersten Tage überstand, die wie ein langer, unangenehmer Traum ineinander zu fließen schienen. Meinen Schmuck aus Muscheln und Steinen des Meeres sowie die wenigen Münzen vom Nähen des Ahnenzeltes hatte ich schon bald gänzlich eintauschen müssen und bald wanderte ich hungrig und ebenso schmutzig wie die Einheimischen durch die Gassen.
Darian hatte mich sich einverleibt, geschwindter als man zu befürchten wagte. Und in jedem Winkel in jedem mir fremdartigen Gesicht, dessen Züge hier allgegenwärtig waren, wie ich erkannte, wähnte ich für einen Wimpernschlag Walid wieder zu sehen.
Bei einer Herbergswirtin bat ich schließlich um ein Almosen in Form einer Schale Suppe und den Göttern sei dank bat sie mir an, in ihrem Haus die Laken zu flicken und die Nachttöpfe zu leeren und den Ofen sauber zu machen und welche kleinen Handgriffe auch immer sonst sie nicht gerne selbst machen wollte. Dies schien mir eine anständige Sache zu sein, und da ich in der Küche einen warmen Schlafplatz sowie die Reste der Herbergsgäste an Essen und Badewasser haben sollte, willigte ich ein. Ich lernte nach und nach ein paar wenige Worte zu lesen, die mir tagein, tagaus begegneten, darunter “Salz”, “Kaffee” und “Dattelwein”. Und spät nachts, wenn alles im Hause schlief, übte ich mich mit den Kohlen beim schwachen Schein eines Kerzenstumpens selbst im Schreiben von Buchstaben und einfachen Worten, die ich hier und da auf allerlei Flugblättern mit Bekanntmachungen darin tagsüber gesehen und mir eingeprägt hatte und die ich aus dem Gedächtnis abmalte.
Und wenn ich auf dem Basar ein neues Flugblatt sah, so wähnte ich, es sei eine Nachricht von der Academia Rocorion, die mir Walids Verbleib enthüllen könnte.
Nach einigen Monaten traf ich im Haus auf eine Gruppe Leute, an deren Kleidung und fremdartigem Akzent ich sofort erkannte, dass sie von weit her kommen mussten oder jedenfalls nicht aus Darian. Ich spitzte meine Ohren, um mehr zu erfahren und fand schließlich heraus, dass sich die Gruppe von Händlern aus verschiedenen anderen Teilen Heligonias zum gegenseitigen Vorteil zusammengetan hatte, um sich weiterhin in wenigen Tagen einer Karawane Richtung Nordwesten anzuschließen.
Ich spürte wieder dieses hoffnungsvolle und unerklärliche Kribbeln, das mich in die Fremde zog und nutzte einen günstigen Augenblick, um einen der Männer anzusprechen und zu bitten, sie mögen mich bei ihrer Abreise mitnehmen. Zunächst lachte er nur und lehnte ab. Nun hatte ich seither gelernt, wie es in der weiten Welt zuging und dass es immer darum ging, einen Tausch zu erhandeln oder sich selbst möglichst in einem Licht erscheinen zu lassen, welches einen für den anderen in irgendeiner Weise nützlich machte. Daher blieb ich in den nächsten Tagen hartnäckig, zeigte, was ich an nützlichen Arbeiten vermochte und deutete an, ich würde ihnen ohnehin bei ihrer Abreise folgen.
Auf diese Weise gelangte ich schließlich in die Dienste von Ras el’Hanout, einer reichen Gewürzhändlerin, die Saarka sehr verehrte. Ihr gehörte nämlich die Karawane, der die Gruppe Händler aus der Herberge und ich sich zwei Tage später anschlossen. Mehrere Jahre verbrachte ich so in der Wüste, fernab von Xurls Segen, indem ich Karawanen kreuz und quer durch das Land begleitete, in Oasen unter dem Sternenhimmel der Ahnen für die Reisenden Fladen buk und lernte, wie man Burais versorgte. Wann immer ich konnte, ließ ich mir von Reisenden vorlesen und ein paar neue Worte beibringen, sofern sie ein Buch mit sich führten, oder von ihrer Heimat erzählen, sofern sie keines hatten.
Und wenn der Vollmond auf die Dünen fiel, so wähnte ich ihre Wogen seien wie das Meer.
Das Wasser sah ich jedoch erst eine ganze lange Zeit später wieder, als eines Tages ein Auftrag von Ras el’Hanout mich den weiten Weg nach Betis brachte. In dieser Stadt besaß sie seit geraumer Zeit ein Badehaus und zu der Zeit weilte sie auch häufig dort und überließ die Karawanenzüge ihren erfahrenen Karwanenführern. Ein paar Darianer in ihren Diensten und ich sollten ein wichtiges, versiegeltes Schriftstück und eine kleine, ebenfalls versiegelte und mit einem komplizierten Mechanismus verschlossene Schatulle zu der Händlerin bringen. Ich weiß nicht, was sie enthielten und nicht, welcher Handel anschließend schief gelaufen sein muss, doch sah ich kurz nach unserer Ankunft ein paar finstere Gestalten um das Badehaus schleichen und zog mich in düsterer Vorahnung zurück. Es gab in dieser Nacht keinen wahrnehmbaren Tumult, und selbst die Hunde bemerkten nichts, doch fand man am Morgen die Händlerin mit durchschnittener Kehle in einem der Zuber, die Schatulle aufgebrochen und leer und das Schriftstück verschwunden.
Nach dem Tod der Händlerin schafften es einige langjährige Bedienstete das Badehaus zu übernehmen und zu betreiben, indem sie pikante und geheime Vertraulichkeiten einiger einflußreicher Stammgäste geschickt auszuspielen wussten. So gelangte ich in den Dienst des Badehauses “Stern des Südens” in Betis.
Von meiner Zeit dort gibt es vieles, was in den schummerigen, dampferfüllten Hallen oder in Nischen zwischen Rohren, Kesseln und Körben mit Tüchern geschah und das ich lieber vergessen möchte, teils zum Schutze derjenigen, die diesen Bericht dereinst lesen mögen, teils zum Schutze meiner selbst. Doch ich stellte fest, dass während meiner Zeit im Sandmeer eine neue Fähigkeit in mir erwacht war und zunächst gelegentlich, dann immer regelmäßiger unterhielt ich die Badehausgäste mit einer kurzen Geschichte oder dem ein oder anderen Lied aus fernen Ländern, das ich einst von Reisenden gelernt hatte. So erlangte ich gelegentlich eine hilfreiche Gunst oder entronn einem zermürbenden körperlichen Dienst.
Und wenn der Kerzenschein auf die dampfende, sanft schaukelnde Wasseroberfläche der Zuber fiel, so wähnte ich sein Funkeln sei ein Gruß der Ahnen.
Eines Tages muss mir beim abendlichen Reinigen und Auffüllen der Räucherschalen im Badehaus ein Quäntchen Räucherwerk zuviel in die Schale gefallen sein, denn in der darauffolgenden Nacht hatte ich einen sehr merkwürdigen und beunruhigenden Traum, und ich erwachte mit einem Gefühl unerklärlicher Dringlichkeit. Doch nur schemenhaft erinnerte ich mich an das, was ich im Schlaf gesehen hatte und in meinen Ohren hallte noch ein großes Gurgeln und Rauschen nach, welches ich jedoch zunächst mit den normalen Geräuschen im Badehaus verwechselt haben musste.
Eine Woche verging und in der Nacht zum Redontag träumte ich wieder unruhig. Ich begenete meinem Vater, Berthollo dem Hopfenschneider aus Lanum in Corenia. Als ich ihm um den Hals fallen wollte bemerkte ich die seltsamen Veränderungen an seinem Körper: anstelle von Ohren hatte dieser nun sich auffächernde Flossen an der Seite seines Kopfes, zwischen seinen Fingern waren Schwimmhäute und sein Bart bestand aus schillernden Schuppen.
“Vater, was ist mit dir geschehen? Bist du bei den Ahnen und wachst du über mich? Hat Xurl dich gesegnet?” fragte ich neugierig.
Doch als mein Vater den Mund öffnete, um mir zu Antworten, kam aus seiner Kehle nur ein dröhnendes Gurgeln und sogleich bemerkte ich, dass um meine Beine herum die Flut plötzlich rasch anstieg. Mit sich brachte das salzige Wasser allerhand halb-verweste Teile an Meeresgetier, die bestialisch stanken und mir sogar im Traum noch den Atem raubten. Zu meinem größten Entsetzen begannen einige der Teile zu zucken und sich von selbst zu bewegen und schmerzhaft an meinen Beinen und hernach an meinem Bauch und Rücken herum zu beißen. Als das Wasser meine Schultern erreicht hatte sah ich noch einmal Hilfesuchend hoch zu meinem Vater, der nun wild gestikulierte bevor das steigende Wasser schließlich mein Gesicht erreichte und ich unvermittelt mit einem Japsen und einem salzigen Geschmack im Mund erwachte und mich auf meinem Lager im Badehaus befand, wo ich eingeschlafen war.
In der darauffolgenden Woche war ich sehr unruhig und schreckhaft und hatte gelegentlich im Dämmerschlaf den Drang, meinen Körper nach Bissspuren abzusuchen. Doch noch wusste ich nicht, wozu die Erscheinung meines Vater mich hatte auffordern wollen.
Erst als ich zum dritten mal träumte, sollte ich wie in meinem eigenen Kopf eine unendlich tiefe und tausendfach widerhallende Stimme vernehmen und endlich begreifen und behalten, was sie mir sagte.
Noch jetzt bin ich sicher, es war eine Botschaft von Xurl, der mich aufforderte, entlang des großen Stroms nach Süden auf eine Suche zu gehen. Was genau ich suchen soll, vermag ich nicht mit Worten zu erklären, doch hat Xurl mir das Wissen sicherlich ins Herz gepflanzt und ich werde es erkennen, wenn ich es finde.
Und so reiste ich den Jolborn entlang, endlich wieder in Richtung des Meeres. Da ich dies Schreibe, befinde ich mich in Jalamanra in Sedomee und vertraue diesen meinen Bericht nun Euch an, bevor ich mich morgen ins Landesinnere begebe, wohin es mich mit unwiderstehlichem Sog anzieht.