Ein blutroter Streifen am Horizont über der Wüste im Westen war alles, was noch an den brütend heißen Tag erinnerte. Die Dämmerung war kurz in Darbor, der alten Hafenstadt Darians, und wie immer um diese Zeit kam vom Meer her eine frische Brise auf.
Nach der allmonatlichen (und wie gewohnt herausragend einzigartigen) Rede ihres geliebten Herrschers Graf Dedekien waren die Straßen noch immer gefüllt von glücklichen Menschenmassen, deren Euphorie sich langsam in wohlige Zufriedenheit wandelte, als man die kühlen Dachterrassen aufsuchte, um dort das müde Haupt zu betten. Leise Stimmen erfüllten die von Saarkas Sichelmond erhellte Nacht, sporadisch durchmischt von einem Lachen, einer zirpenden Grille, einer quietschenden Tür oder einem bellenden Hund.
Auch der uralte Onkel Faisal saß zurückgelehnt auf dem Dach seines Hauses auf einem riesigen Kissen, die Wasserpfeife in der einen Hand, einen Becher Wein in der anderen und zahlreiche Familienmitglieder um sich herum. Wieder einmal hatten sie darum gebeten, seine Geschichte vom Nech-Burai zu hören, dem sagenhaften, geflügelten weißen Burai, das er vor sehr langer Zeit einmal gesehen hatte. Wieder einmal erzählte er sie geduldig.
Als er geendet hatte, verabschiedeten sich seine Zuhörer nach und nach, um sich schlafen zu legen. Nur die kleine Nuha saß noch auf seinem Schoß.
Sie war den Sommer über bei Faisals Familie einquartiert. Wie viele Darianer waren auch Nuhas Eltern seit ein paar Jahren gezwungen, geschäftlich ins Ausland zu gehen. Während sie die Saison über in der Grenzgegend von Thal und Tlamana im Norden arbeiteten, erlebte Nuha eine großartige Zeit in Darbor.
„Onkel, diese Geschichte von dem geflügelten weißen Burai erzählst du so oft… ich weiß, alle mögen sie gerne, aber ich würde lieber etwas ganz neues hören… etwas, das du noch nie erzählt hast!“
„Etwas neues, ja?“ Nachdenklich strich sich Faisal durch den Bart. „Was möchtest du denn hören? Gibt es etwas, das dich besonders interessiert?“
Nuha überlegte nicht lange. „Ja, so etwas gibt es! Ich würde gerne wissen, warum deine Frau Salimah so jung ist, obwohl du doch schon so alt bist. So alt, dass die Leute sagen, niemand sei so alt wie du.“
Faisal schmunzelte. „Ja, so sagt man wohl… da ist dir eine gute Frage eingefallen und ich könnte dir erzählen, warum das so ist. Aber es ist ein Geheimnis, und wenn du es kennst, darfst du es nur weitererzählen, wenn Salimah oder ich es dir erlaubt haben.“
Nuha nickte eifrig. „Versprochen!“ flüsterte sie.
„Alles begann vor sehr langer Zeit. Damals waren Salimah und ich jung. Genau gleich jung! Und wir hatten uns sehr gern.“
„Wirklich? Gleich jung?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal schloss für einen Moment andächtig oder vielleicht auch müde die Augen und fuhr fort. „Zu unserem Glück konnten sich unsere Eltern einigen und wir heirateten, sobald wir alt genug waren. Wir hatten ein großes Zelt, eine stattliche Buraiherde und im Handumdrehen viele Kinder, und wir alle lebten glücklich, bis eines Tages Salimah sehr schwer krank wurde. Du hast vielleicht gehört, dass sie lange fort war?“
„Oh ja! Sie war fort, das habe ich gehört.“
„So kann man es sagen, doch war sie wirklich unvorstellbar weit fort. Sie ist damals nämlich immer schlimmer krank geworden, und in einer dunklen Nacht hat sie die Welt der Lebenden verlassen.“
„Wirklich? Sie ist gestorben?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal seufzte und blickte aufs Meer. „Wir alle waren sehr, sehr traurig. Und ich habe nicht glauben können, dass ich sie nie wiedersehen sollte. Ich hatte Angst, ohne sie alt werden zu müssen. Doch dann begegnete ich dem Nech-Burai… und ich hatte das Gefühl, dass ich warten musste. Bis sie wiederkommt.“
„Und vor ein paar Jahren ist sie tatsächlich wiedergekommen?“
„Ja. Und sie hat etwas ganz und gar Unglaubliches erlebt! Sie hat Gwon getroffen, den Götterfalken, der sie zu den Sternen ins Reich der Toten nehmen wollte. Er machte sich auf mit ihr, doch auf halbem Weg kamen sie an einen Ort, der Salimah an eine Karawanserei erinnerte. Dort wurde sie abgesetzt. Es gab dort auch andere Seelen, und es war für alle gesorgt. Manche waren schon länger dort, manche erst kurz. Hin und wieder, so schien es, bringt Gwon die Toten nur bis an jenen Ort und nicht bis zu den Sternen. Warum das so ist, hat Salimah nicht herausgefunden. Normalerweise, so sagte sie, werden die Seelen nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt abgeholt, um endgültig zu den Sternen zu reisen. Doch manche dürfen auch zurück.“
„Wirklich? Und sie durfte zurück?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal schürzte die Lippen. „Es war aber nicht einfach. Von Zeit zu Zeit wird dort, in der Karawanserei zwischen den Welten, ein sehr kompliziertes Spiel gespielt. Wer es gewinnt, darf wieder zurück zu den Lebenden. Doch das gelingt nur selten.“
„Aber sag, Faisal, warum hat es denn so lange gedauert, bis sie wieder hier war?“
„Das weiß ich nicht. Für sie schien es aber nicht ganz so… lang wie für mich gewesen zu sein, wie man an unserem Altersunterschied sehen kann.“ Faisal seufzte schwer. „Jedenfalls weißt du jetzt, warum Salimah und ich gleich alt sind und ich trotzdem viel älter.“ Faisal lächelte. „Doch nun gehen wir schlafen.“
Die beiden gingen hinüber zum Nachtlager, wo die anderen Familienmitglieder schon schliefen. Eigentlich, dachte Faisal, hatte er großes Glück gehabt. Denn schöner hätte der Abend seines langen Lebens nicht kommen können.
„Gute Nacht, kleine Nuha.“
„Gute Nacht, Onkel Faisal!“
Erschienen in Helios-Bote 76