Vendor schleppte den ganzen Vormittag über schon. Und schleppte und schleppte. Stoffballen, Holzkisten, Säcke mit Getreide, Rüben, Wintervorräten, Saatgut, Fässer mit Dörrobst und Sauerkraut, Salzfleisch und Räucherfisch. Und es wurde einfach nicht weniger! Obwohl die Angaheymer Familien packten und verstauten, wurden gleichzeitig wieder neue Waren angeliefert. Der Innenhof des Gasthauses vor den Toren von Betis war angefüllt mit dem Blöken von Maultieren, Kindergeschrei, derben Flüchen und fröhlichem Gelächter. Findabair stand am großen Tor des Gasthauses und verglich die Lieferungen der Bauern und Händler mit einer Liste. 84 Auswanderer hatten sie schließlich überzeugen können, in die Heimat zurückzukehren, einige Kinder waren bereits in Betis geboren. Nicht schlecht, dachte Vendor, der von Anfang an in den Plan eingeweiht gewesen war. Auch wenn ein gutes Dutzend Angaheymer noch nicht bereit war, den Traum von Glück und Reichtum in Betis schon aufzugeben, die meisten hatten sie auf ihrer Seite. Und er war daran nicht ganz unschuldig, hatte er doch das Rennen im Betiser Stadion gewonnen, naja, wenigstens fast. Zumindest für die Angaheymer. Wagenlenker nannten sie ihn seitdem, dachte er stolz. „Schlaf net, Bua!“ Jemand stupste ihn in die Seite. Richtig, sie wollten ja heute noch aufbrechen.
Die meisten Familien besaßen nur wenige Habseligkeiten, zudem Findabair darauf bestanden hatte, sperrigen Hausrat zu verkaufen. Der meiste Platz auf dem Rücken der Maultiere war den Vorräten für den Winter bestimmt. Dies war das erste große Problem gewesen, mit dem sie sich herumgeschlagen hatten: Die Freude der alten Angaheymer über die Rückkehrer würde sofort in Ärger und Sorge umschlagen, wenn klar würde, dass man sie den Winter über mit durchfüttern mußte. Und das Tal hatte ja selbst kaum genug Vorräte, die Felder lagen brach. Die Heimkehrer mußten ihr Auskommen also selbst mitbringen, doch niemand besaß dafür genug Geld.
Das zweite große Problem war im Laufe der Jahre die Scham geworden: So viele waren vom elterlichen Hof weggezogen, um in der Fremde reich zu werden, ein besseres und bequemeres Leben zu führen, doch fast alle waren gescheitert. Manch ererbte Waffe oder Schmuckstück hatte zum Begleichen von Schulden Angaheymer Hände verlassen, die Kleidung war geflickt und die Träume geplatzt. Wer wollte sich da zuhause schon Zorn und Spott aussetzen?
Aber mit dem unerwarteten Erfolg im Betiser Wagenrennen waren nun beide Probleme mit einem Schlag gelöst: Vendor und Findabair konnten mit ihrem Angebot, die Kosten für Vorräte und neue Kleidung zu übernehmen, fast alle überzeugen, und so waren sie heute hier zum gemeinsamen Aufbruch verabredet. Jeder Angaheymer trug nun nicht nur ein neues, einfaches Gewand für die Reise, viele hatten auch ein Festgewand im Bündel. Es war nämlich noch so viel Preisgeld übrig gewesen, dass Findabair einige Ballen Tuch in traditionellen Mustern hatte weben lassen. Ein paar Betiser Schneider hatten zwar begehrliche Blicke darauf geworfen, mußten sich aber auch mit diesen begnügen. In den Angaheymer Familien jedoch wurde daraufhin eifrig genäht, gestickt und geflochten.
Jetzt war es soweit: Die Maultiere setzten sich in Bewegung, eine kleine Ziegenherde wurde losgebunden und der Hof leerte sich langsam. Kaum einer blickte zurück auf die Mauern von Betis, die im Licht des Spätsommertages langsam kleiner wurden.

Vendor wachte mit einem Brummschädel auf und mußte erst einmal nachdenken, wo er sich befand: Richtig, Burg Sarniant. Sie waren gestern abend in der Stadt angekommen, und Findabair hatte bei der Baronin um Unterkunft gebeten. Diese schien von ihrem Plan zwar auch nichts gewußt zu haben, bat die Heimkehrer aber sofort in ihre Burg, ließ ein Schwein schlachten und ein Faß Bier öffnen, und dem verdankte Vendor nun seinen Brummschädel. Obwohl, bei seiner langen Unterhaltung mit Tallrim Stabschwinger waren auch noch andere Getränke im Spiel gewesen… Draußen auf dem Hof waren schon wieder alle am Packen, so wie in den Tagen zuvor. Nur waren es jetzt elf Angaheymer mehr: Tallrim und die beiden noch verbliebenen Pratzen der Burgwache hatten bei der Baronin um Urlaub gebeten und würden sie begleiten. Vendor sah, dass sich Findabair gerade von der Baronin verabschiedete und trat hinzu. „…und ihr müßt nicht hungern!“ hörte er Josephina noch sagen. „Sendet einfach einen Boten. Und vergeßt mich nicht, ich habe nun so lange gewartet.“ Dann sah sie auf Vendor, lächelte und nickte ihm zu. „Auf gehts!“ rief jemand hinter ihm, und die großen Burgtore öffneten sich.

Am Anfang der Perlbachschlucht waren noch Lachen, Erzählen und Freude auf ein Wiedersehen mit Eltern und Freunden im Zug zu hören gewesen, je höher sie aber stiegen, um so stiller wurde es. Findabair hatte ihnen auf dem Weg nach und nach erzählt, wie es um das Tal stand, wie Haß und Zwietracht Einzug gehalten hatten, alter Streit um alte Rechte aufgeflammt war und nun niemand mehr einen Ausweg wußte. Kopfschütteln hatte das hervorgerufen, Zorn und auch Schuldbewußtsein, da der Wegzug der Jungen vieles erst ausgelöst hatte. Nun hingen beim Aufstieg alle ihren Gedanken nach. Die Wachen an der Schlucht hatten sie zuerst verblüfft angestarrt und sich dem Zug dann wortlos angeschlossen. Vendor sah sich um, Findabair hatte schon seit Beginn der Schlucht nichts mehr gesagt, verbissen setzte sie einen Fuß vor den anderen. Er selbst war hin und wieder zuhause gewesen, hatte Nachrichten überbracht und Beobachtungen mitgeteilt. Auch ein Druidh hielt für Baron Koldewaiht im Tal die Augen offen und schickte Nachrichten nach Luchnar. Aber Findabair war seit zehn Jahren nicht mehr in Angaheym gewesen. Vendor wußte kaum etwas über den großen Streit damals. Welchen Plan sie selbst wohl verfolgte? Ob man ihr überhaupt zuhören würde? Auf dem steilsten Stück gegen Ende wurde allen deutlich, wie vernachlässigt die Schlucht eigentlich war: Etliche Baumstämme aus der Schneeschmelze waren gar nicht mehr weggeräumt worden. Das hätte es früher nie gegeben, dachte so mancher. Schließlich öffnete sich das große Hochtal von Angaheym vor den Heimkehrern. Die ersten blieben stehen und blickten bewegt in das weite Rund. Dann standen sie alle auf der Anhöhe, mit den müden Kindern auf dem Arm, still, mit ernsten Gesichtern und auch einigen verstohlenen Tränen. Wie würde man sie empfangen?

Erschienen in Helios-Bote 76