Der Tod Olidir Dämmertraums traf uns alle tief. Vor allem da vollkommen unklar war, was sein Selbst zerstört und ihn letztlich umgebracht hatte. Dass Elfen im Kampf fallen, das kommt in diesen Zeiten leider allzu häufig vor. Dass einer unserer Brüder aber sein Selbst verliert, ohne erkennbare äußere Verletzungen, das hatte man noch nie gehört. Die Bestattungszeremonie des Olidir Dämmertraums war tief bewegend und von so viel Trauer geprägt, dass man meinen konnte, selbst der Wind, das Wasser, die Erde und die Sonne wollten nicht aufhören zu klagen.
Nur wenige Tage später berief Baronin Samira den Rat der Weisen ein. Nach dem Bericht der Kundschafter, der uns leider nur wenige Antworten auf den Tod Olidirs gab, wurde lange und ausfürlich beraten, wie wir nun weiter vorgehen sollten.
Baronin Samira beschloss letztlich, einen zweiten Trupp los zu schicken, um dieser seltsamen Senke und dieser noch viel seltsameren Präsenz auf den Grund zu gehen. Und wenn irgend möglich erhofften wir uns Antworten auf die Frage nach Olidirs Tod. Um besser gerüstet zu sein, wurden einige Gelehrte, besonders zu nennen die Itsui Teleria und der Heiler Mallion ausgewählt. Zu meinem eigenen Erstaunen wurde ich ebenfalls von der Baronin in die Gruppe berufen.
Wir machten uns also auf und nahmen, den Erzählungen der anderen folgend, den Weg ins Herzogtum Stueren. Ungefähr zwei Tagesreisen westlich des Jolborn trafen wir dann auf die Senke. Zunächst sahen wir lediglich eine Senke, bewachsen mit hohem Steppengras und einer sonderlich anmutenden Steinformation in der Mitte. Doch wie die Gruppe vor uns auch schon spürten wir just in dem Moment als wir die Senke betraten die Anwesenheit einer Präsenz, die sich mit menschlichen Worten kaum beschreiben lässt. Die Istui Teleria versuchte vorsichtig Kontakt mit dieser Präsenz aufzunehmen. Konzentriert und angespannt saß sie bei den Steinen, während wir anderen ein wenig besorgt einen gewissen Abstand zu ihr wahrten. Je länger sie dort saß, desto heftiger begann der Wind zu wehen, ja wuchs sich zu einem regelrechten Sturm aus. Aus den Erzählungen der ersten Truppe waren wir durchaus vorgewarnt. Je mehr der Sturm zunahm umso stärker machte sich das nagende Gefühl drohender Gefahr unter uns breit. Da Telerias Versuch mit der Präsenz Kontakt aufzunehmen bislang nicht von Erfolg gekrönt war und da wir uns nur allzu gut an den Leichnam Olidirs erinnerten, beschlossen wir, dass die Gefahr zu groß wurde und zwangen Teleria, aufzuhören. Und kaum dass wir die Senke verlassen hatten, legte sich der Sturm. Teleria jedoch war sehr geschwächt. In einem fort murmelte sie die uns allen nur allzu gut bekannten Worte „Fisch und Fleisch unter einem Dach, das haben wir schon einmal gesehen. Neuer Streit, alter Krieg, die Erde ist durstig, das haben wir schon einmal gesehen. Faust wider Faust, Finger dazu, einen wischt der Regen fort, das haben wir schon einmal gesehen. Die Zeichen der Vergeltung, könnt Ihr sie erkennen? Dies alles mussten wir erblicken, wollen die Augen nun schließen für immerdar.“ Nein, diese Worte die wir damals am Fluss hörten, als wir dem Wind lauschten; diese Worte werden wir wohl nie vergessen. Auf unsere ungestümen Fragen hin murmelte Teleria nur immer wieder „Es war keine Absicht.“ Und dann brach sie zusammen. Wir konnten sie nicht mehr erreichen. Auch der Heiler Mallion, der uns auf unserer Reise begleitete konnte ihr nicht helfen. Und wieder konnten wir keine äußeren Verwundungen erkennen.
Hastig traten wir den langen Heimweg nach Xurl-Salenia an. Immer in der Hoffnung, die dortigen Itsui und Heiler könnten Teleria besser helfen als wir es vermochten. Viel langsamer als uns lieb war kamen wir voran, doch nach drei langen Tagen erreichten wir das Ufer des Jolborn. In der ganzen Zeit kam Teleria nicht ein einziges Mal zu sich. Ihr Körper hatte jegliche Spannung verloren, ihre Augen blickten in weite Ferne an einen Ort, den wohl keiner von uns je finden kann. Es schien, als sei sie nicht mehr Teil dieser Welt. Wir spürten nicht einmal ihre Anwesenheit und wäre die Trage nicht gewesen, man hätte meinen können sie sei gar nicht da.
Mit bangem Warten verbrachten wir die Tage in Xurl-Salenia. Die Heiler und Istui gaben sich alle Mühe. Doch all ihre Rituale konnten Teleria nicht zurück holen. Ihr Geist ist vollkommen zerrüttet und es scheint, als habe sie jeden Kontakt zu Wind, Wasser, Erde und Sonne verloren. Wir können ihr Selbst nicht mehr spüren.
Hiermit endet mein Bericht. Was auch immer dort im Herzogtum Stueren in der Senke mit dem hohen Steppengras und der sonderlich anmutenden Steinformation ist, welcher Natur auch immer diese Präsenz ist, sie ist mächtig und wir können sie nicht begreifen.

Laroâna Mirayadon, Händlerin und Mitglied des Rat der Weisen

Erschienen in Helios-Bote 70