Wie befürchtet, gestaltet sich die Orientierung im Ödland schwierig: Obwohl die Gegend nördlich von Härtwigs Hafen noch grün und fruchtbar ist und es an markanten Landschaftspunkten nicht fehlt, ist der Kompass schier nutzlos. Himmelsrichtungen scheinen keine Rolle mehr zu spielen, und die Landschaft, die man eben noch durchwandert hat, verändert sich im Rücken auf subtile Weise. Wir versuchen, mehr oder weniger nördliche Richtung zu halten und erreichen schließlich eine Burgruine. Dort entdecken wir eine Tafel mit den Symbolen der Viere, durchbrochen mit einem ceridischen Kreuz. Im Innenhof kämpfen drei Männer miteinander, augenscheinlich unsere ersten Ödländer. Als wir zu Hilfe eilen, stellt sich heraus, dass es sich nur um ein Kräftemessen handelt, dem sie aber enorme Wichtigkeit beimessen. Stolz erklären sie uns „Mein Gott ist Javare!“ oder „Mein Gott ist Vahrim!“ Während wir noch verblüfft nachfragen, bricht ein Sturm brüllender, Waffen schwingender Ödländer über uns herein. Die drei machen keine Anstalten, uns zu helfen, und kehren uns lachend den Rücken. Nur mit knapper Not können wir uns erwehren, doch kaum einer bleibt ohne Verwundung. So schnell der Angriff über uns kam, so schnell ist er auch wieder vorbei, die Horde zieht weiter, nur eine Eule flattert herum.
Um unsere Verwirrung noch zu vergrößern, verwandelt sie sich in einen Menschen und lädt uns zum Ulsari-Fest in eine Taverne in der Nähe ein. Die Eule, vielmehr der Mensch, behauptet, ein Formwandler zu sein, eine Begabung, die hier wohl öfter vorkommt. Wir erkundigen uns nach dem Sinn des Ulsari-Festes und erfahren, dass es ein großer Tauschtag ist. Besonders begehrt sind magische Fokusse, aber so etwas haben wir natürlich nicht im Gepäck.
Unterwegs erfahren wir noch, dass das Ulsari-Fest für Erneuerung und Fruchtbarkeit steht, eigentlich nicht ungewöhnlich, da heute ja auch das ogedische Laubfest mit ähnlicher Bedeutung ist. Interessant ist auch, dass in letzter Zeit mehr Fremde in der Gegend aufgetaucht sind, darunter auch Heligonier. Letztere retten uns vor einem weiteren Angriff, als wir mehr tot als lebendig in den Hof der Taverne humpeln: Eine Gruppe aus Ankur um Ritter Gerdhelm, die die Leomark über den Landweg erreichen wollte, hängt hier schon seit mehreren Wochen fest. Alle Bemühungen, den Ort zu verlassen, führen immer wieder zum Haus zurück.
Beim Tauschtag erzählt man uns, dass es in der Nähe Orte mit Ameryllvorkommen gibt. Wir sammeln einiges davon ein, doch die Ulsari verlangen, es weit außerhalb der Taverne zu deponieren. Ulsar könne sie dann nicht mehr sehen und beschützen. Vor den Angreifern? Keine Antwort. Unsere Vermutung, es könnte der Weg aus der Tavernen-Falle sein, bestätigt sich nicht, jedenfalls solange keiner das Reisen durch Ameryll beherrscht. Für Ceriden scheint es ohnehin unmöglich zu sein.
Über unsere Angreifer erfahren wir, dass sie „Unberechenbare“ genannt, von allen Ödländern gefürchtet werden und es kein Mittel gegen sie gibt. Die Katze, ein weiterer Gestaltwandler, erzählt mir, dass die Angriffe der Unberechenbaren in letzter Zeit mehr geworden sind, dass zunehmend alte Tabus gebrochen wurden. Und obwohl die Taverne von Ulsar geschützt wird, kamen die Angreifer ungewöhnlich nahe. Es ist also eine Veränderung im Gange.
Ein Wildschwein-Gestaltwandler erklärt mir bereitwillig die Stämme der Ödländischen Gesellschaft, wobei eher die Bezeichnung Kasten passen würde:
Die Ulsari sind die Zauberer und Formwandler, sie haben verschiedene Begabungen.
Die Wogu sind die Bauern, die den Acker bestellen und für Nahrung sorgen.
Die Gorsan reden mit den Göttern.
Die Bensur arbeiten mit Papier, sie schreiben und forschen.
Die Dechmol sind die Heiler und Schamanen, sie haben Kontakt zur Geisterwelt.
Die Javare sind die Krieger. Innerhalb dieses Stammes gibt es die Garde: Sie sorgt für Recht und treibt Steuern ein.
Zudem gibt es verschiedene Aspekte, die die Stellung innerhalb der Kaste beeinflussen können, aber das erschien mir etwas unklar. Kommt etwa zu einer Berufung zum Javare der Aspekt „Glück“ hinzu, so will er sich ständig beweisen und fordert jeden zum Kampf – er wird zum Unberechenbaren.
Überraschend taucht ein Ritter des Ordens vom Wahren Wort auf, nach dem wir auf der Suche sind. Er scheint öfter anwesend zu sein und lehrt einige Kinder aus einem Buch die ritterlichen Tugenden. Jener Kodex stellt sich als verfasst von „Jorin“ heraus, einer äußerst geheimnisvollen Person in arkanen Kreisen, wenn ich mich recht erinnere. Als Ritter Larion von den acht Artefakten, nach denen wir auf der Suche sind, keinen blassen Schimmer hat, wird er uns verdächtig. Tatsächlich handelt es sich um einen Hochstapler, der die Ausrüstung des toten Larion an sich genommen hat.
Wir machen uns auf die Suche nach den Überresten des echten Larion und finden schließlich seine Gebeine im Wald. Eines der sechs Kinder ist in der Lage, mit Kobolden zu sprechen, diese haben den Ritter vom Felsen stürzen sehen, dabei sei ein großer Vogel weggeflogen.
Ob es sich dabei um Gwon, Rabe oder einen weiteren Formwandler gehandelt hat, muß offenbleiben. Die beiden Heliosgeweihten Metabor und Fernvihn Evertun wollen aber Gwon ausschließen, da der Vogel bereits anwesend war, als der Ritter noch im Fallen, also am Leben war.
Kurz darauf ist ein Tagebuch Larions in Umlauf, offenbar im Besitz der Kinder, in das ich kurz Einblick nehmen kann: Er wurde zusammen mit weiteren Ordensrittern von seinem „Patron“ ausgesandt, um die Artefakte zu finden. Man müsse sie (wieder?) sammeln und bewahren, weil sie zu große Macht hätten. Das Tagebuch schreibt er, um sich immer wieder daran zu erinnern, wer er ist und welche Aufgabe er hat. (Er schreibt auf, „um nicht vom Weg abzukommen“. Vielleicht auch für uns ein Hinweis im Umgang mit den Phänomenen des Ödlands?) Larion habe den aktuellen Besitzer des Dolches ausgemacht, einen gewissen Arwaatz. Dieser bewahrt ihn in einem Versteck auf. Larion müsse ihn nun jede Nacht beobachten, um es zu finden und hofft, dass er die Macht des Dolches nicht kennt und einsetzt.
Eines der sechs Kinder, die offenbar verschiedene Begabungen haben, spricht über das Gebein mit Larions Geist: Es sei kein Mord gewesen, er geriet mit Arwaatz in Streit und stürzte den Felsen hinab. Arwaatz werde den Dolch nun zu den Hohepriestern ins Zentrum der Ödlande bringen.
Das Ulsari-Fest endet am Abend mit der Verbrennung von alten Dingen und dem Aussprechen von Wünschen für das neue Jahr.
Wir wissen also nun, dass eines der acht Artefakte ein Dolch ist und dieser sich auf dem Weg in das zentrale Heiligtum der Ödlande befindet. Die Kinder, welche sich „Sechskant“ nennen, erklären sich bereit, uns dorthin zu führen. Die Gruppe um Ritter Gerdhelm dagegen wird zum Jolborn und damit zurück nach Heligonia gebracht werden, ihm gebe ich diesen Bericht mit. Wir anderen ziehen nun weiter in die Ödlande hinein.
Bis auf die Angriffe relativ kleiner, offenbar unabhängiger Gruppen von „Unberechenbaren“ habe ich bis jetzt keine kriegerischen Handlungen erkennen können, auch keine Vorbereitungen zu größeren Zurüstungen. Galten die Ödländer im letzten Krieg noch als bunt bemalte, mit Leder und Fellen bekleidete, Speer schwingende Krieger, so sind die Menschen hier völlig normal gekleidet, es gibt keine auffälligen Tracht-Merkmale. Bei den Unberechenbaren sah ich höchstens Lederschutz, aber keine schweren Rüstungsteile. Insgesamt stellt sich die Gesellschaft etwas komplexer dar als in den alten Kriegsberichten beschrieben. Einen Kriegs-Schamanen oder gar zusätzliche Körperteile oder andere Modifikationen aus Ameryll sah ich bis jetzt nicht.
Ebenso versicherten mir die Ulsari, dass bei ihnen niemand Boote oder gar Schiffe besitzt. Sie zeigten sich sehr überrascht vom Angriff auf dem Jolborn. Entweder geht hier etwas vor, von dem auch die „gewöhnlichen“ Ödländer nichts wissen, oder es sind bisher nur die ersten Auswirkungen einer Veränderung spürbar. Wir vermuten allerdings, dass dieser so mächtige Dolch in den falschen Händen die Krieger der Unberechenbaren und Javare vereinen und wieder gegen unser Reich aufstacheln könnte. Wem eine Kriegsfront im Norden nützt, dürfte klar sein. Ebenso klar ist uns, dass wir diese Hohepriester davon überzeugen müssen, uns beziehungsweise dem Orden des Wahren Wortes den Dolch zu sicheren Aufbewahrung zu überlassen. So wird aus unserer Expedition nun tatsächlich eher eine diplomatische Gesandtschaft – wenn wir glücklich in ihrem Heiligtum ankommen, eine Reise, die wohl mehrere Wochen dauern wird. Sofern es möglich ist, werde ich weitere Nachricht schicken.
Elisabeth Wolkenstein, Kartografin