Boten-Teil: Bazaar Darians Seite 1 von 2

Wesir spricht Warnung am Redonsbrunnen

Am ersten Tag des 1 Xurlmondes wird in Darbor traditionell der Markt um den Redonsbrunnen abgehalten. Der kunstvoll gestaltete Trinkwasserbrunnen rückt an diesem Tag in den Mittelpunkt des ogedischen Lebens. Die Gläubigen strömen herbei, um sich mit dem klaren Wasser zu reinigen. Zahlreiche Xurlgeweihte wohnen der spirituellen Verehrung bei und bieten neben erleuchtenden Worten auch allerlei heilende Wässer an.
Plötzlich wurde die religiöse Szenerie durch das schrille Läuten der Ausrufer-Glocke gestört. Der Wesir des gräflichen Hauses, Makbul Ibn Ben Feysal, wurde auf den Rand des Brunnens gehoben, um von dort seine Stimme zu erheben.

„Geliebtes Volk unseres großen Herrschers!

Besorgniserregende Ereignisse suchen landesweit die Märkte heim. Gurken, groß wie Buraischwengel überschwemmen die Warenumschlagsplätze unserer Stadt zu lächerlich niedrigen Preisen. Optisch eine Augenweide, doch von fadem Geschmack, geradezu wässrig. Verzehrt man sie nicht sofort, dann wird über Nacht das ganze Ausmaß der Katastrophe gegenwärtig. Binnen weniger Stunden ändert sich der Aggregatzustand von fest zu flüssig – aus der beim Einkauf noch festen, knackigen Gemüse wird übelriechender Matsch.
Auf niederträchtige Art und Weise getäuscht wendet sich der arme, geprellte Darianer von den einstmals so geliebten Gurken ab. Die Frauen weinen über das Unglück, wenn sie ihren Familien statt leckerer Gurken nur eine verdorbene Brühe servieren können. Ob der Dringlichkeit der Angelegenheit hat sich der Dekan der renommierten Academica Rocorion höchstpersönlich um Klärung des Missstandes gekümmert. Ein endgültiges Ergebnis wird im nächsten Mond verkündet, doch es konnte bereits zweifelsfrei geklärt werden, dass es sich um unnatürliches Wachstum handelt. Die Gelehrten konnten sogar Rückstände magischer Strahlung feststellen. Es ist also anzunehmen, dass Gurken mittels Magie vergrößert wurden. Diese entwich jedoch nach dem Kauf, was dazu führte, dass die Verwandlung von der prallen Frucht zum schleimigen Brei nicht lange auf sich warten lässt.
Es versteht sich von selbst, dass kein Darianer es jemals in Betracht ziehen würde, einen solchen Frevel zu begehen, daher sei der Ursprung dieses Betrugs außerhalb der Landesgrenzen zu suchen. Unser geliebter Herrscher rät dazu keine ausländischen Gurken mehr zu kaufen und ein Einfuhrverbot werde gerade geplant.“
Kaum hatte der Wesir seine dringende Warnung ausgesprochen, so wurde sie unverzüglich von jedem Omu des Landes von den Türmen ausgerufen.

Jammernd und wehklagend verließ die enttäuschte Menschenmenge den Marktplatz vor dem Redonsbrunnen, um die naheliegendenTavernen aufzusuchen. Dort ertränkten sie ihre Enttäuschung über die Schändlichkeit der Menschen des Nachbarlandes, jedoch nicht ohne die Gläser auf den verehrten Grafen zu erheben.

Außerordentliche Rede Graf Dedekiens an sein Volk

Endlich ist der Tag gekommen, den die Darianer seit Wochen herbeisehnen. Nach schier unendlich langer Wartezeit wird der geliebte Landesherr zu seinen Untertanen sprechen, so wie er es in all den Jahren seiner glorreichen Regentschaft getan hat. Wie ein Verdurstender, der die Weiten der Wüste durchquert hatte, dürstete die Menge nach den gräflichen Worten. Schon seit Stunden drängen sich die Kinder der Sonne zum Palast, denn jeder möchte noch einen Platz ergattern, der ihm wenigstens einen Blick auf den geliebten Herrscher gestattet.

Endlich ist der große Moment gekommen. Just als Helios seine letzten Strahlen über den Horizont ergießt, erscheint Graf Dedekien auf seinem Balkon. Ein wahrhaft imposantes Schauspiel, das einen augenblicklichen Sturm der Begeisterung auslöst. Gleich dem Tosen sturmgepeitschter Wellen erheben sich die Stimmen des Volkes und vereinen sich zu einem lauten Ruf, der den Namen des Herrschers so lange wiederholt, bis dieser die Hand erhebt, um Schweigen zu gebieten.

„Mein geliebtes Volk!
Seht her, wie sehr Uns die Götter lieben. Nach vielen Monden der Wanderschaft sind Wir an den Ort zurückgekehrt, wo Unser Herz wohnt. Nun stehen Wir vor dem schönsten Volk des gesamten Königreichs, um von Unseren Reisen zu berichten. Überall drängte sich Uns der Landadel auf, um Unseren weisen Worten zu lauschen. Edle Speisen, erlesene Getränke und langatmige Kurzweil wurden Uns in prunküberladenen Gemächern aufgebürdet, während Unsere Gedanken immer bei euch, Unsere geliebten Untertanen waren. Doch all dieses Ungemach haben Wir über uns ergehen lassen, um weitreichende Handelsbeziehungen zu knüpfen und neue Allianzen zu schmieden, damit Unserem geliebten Land noch mehr Wohlstand zuteilwird. Wir haben in Unserer unendlichen Großzügigkeit dem König Unsere Hilfe zugesagt, den gefürchteten Unhold Aroben dingfest zu machen. Der ruchlose Thronräuber konnte bislang jeder Obrigkeit entwischen, doch Unserer exekutiven Gewalt hat selbst ein ausgekochter Schlawiner wie Aroben sich nicht entziehen können. Unsere leeren Kerker können sodann mit Aroben und seinen Spießgesellen gefüllt werden. So werden Wir den Dank und Respekt des gesamten Königreichs erlangen.“
Nur mit Mühe konnte der Landesvater seine Rede fortführen, da die Woge der Begeisterungsstürme nicht verstummen wollte:

„Mit Wohlwollen haben Wir die neu gebauten Koggen im Hafen besichtigt, die Wir schon bald mit dem heiligen Wasser aus den Höhlen der Leyra weihen werden, um sie dann auf die große Fahrt über das weite Meer gen Süden zu senden. Dort warten nicht nur neue Bündnisse, sondern auch neue Herausforderungen auf Uns und Unser Volk. Es sollen neue Heiligtümer zu Ehren Xurls erbaut werden, Wir werden unsere großartige darianische Kultur und unsere einzigartige Lebensart überbringen.“
Zustimmendes, einhelliges Klatschen und ein lautes „Jawohl“ durchbrach die Rede, während die kühle Dämmerung die Nacht ankündigte.
„Lasst uns das Zukünftige feiern! Doch zuerst soll mein geliebtes Volk sich am Gegenwärtigen erfreuen und eine Nacht voller Liebe und Wein genießen. Wir haben dafür gesorgt, dass dieser reichlich fließt und jede Frau und jeder Mann meines prächtigen Volkes soll auf Unsere Kosten so viel davon trinken, wie er vermag.“
Die rasende Menge zog tanzend und lachend durch die Straßen der Perle aller Städte. Es wurde getrunken und gefeiert bis in die Morgenstunden, so dass die Omus Mühe hatten, die lieblichen Worte des mächtigen Herrschers in alle Winkel des Reiches zu tragen.

Ansprache des Grafen Dedekien

Die glühende Hitze der Heliosmonde sorgt seit Tagen für menschenleere Gassen und schon beinahe unheimliche Stille in der Grafschaft Darian. Auf lange, heiße Tage folgen warme Nächte, die für ordentliche, darianische Feiern zu kurz sind. In den wenigen, erträglichen Stunden wird selbstverständlich gearbeitet, denn die Geschäfte müssen ihren Gang gehen. Einzig für die sehnlichst erwartete Rede des verehrte Landesherrn unterbrechen die Kinder der schönsten Stadt ihr Nachtwerk, um den süßen Worten ihres geliebten Grafen zu lauschen.
Im Augenblick, da Helios seine letzten Strahlen über den Horizont ergießt und Saarka in ihrer vollen Pracht aufsteigt, erscheint Graf Dedekien auf dem Balkon. Getaucht in wunderbarem Licht, löst sein Erscheinen einen Sturm der Begeisterung aus.
Fanfaren und Trommeln erklingen, worauf die Masse den Jubel weiter ansteigen lässt.
Ein Gong ertönt und Graf Dedekien gebietet Schweigen, indem er seine Arme gen Himmel reckt:

„Mein geliebtes Volk! Wir dürfen heute endlich Unser geheimes Wissen mit euch teilen.“
Graf Dedekien hielt kurz inne, um seinem Volk einen Moment der Spannung zu gönnen. Nachdem das erwartungsvolle Raunen der Masse abklang, hob er erneut an:

„Unsere tapferen Seeleute bereisen seit Jahren die Jolsee und drangen dabei immer weiter in den Süden vor. Diese Pioniere unter Unserer Flagge fanden eine Insel, die ihnen auf ihrer gefährlichen Reise Schutz und Nahrung bot. Doch dies allein war den Entdeckern nicht genug, vielmehr erforschten sie die Insel und freundeten sich mit den Einheimischen an. Dem immer noch nicht genug, machten sie eine sensationelle Entdeckung.“

Die Menge hielt gespannt den Atem an, nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen. In diese Stille hinein erhob der Graf erneut seine Stimme:
„Ihr fragt Euch, was so wichtig war, dass selbst der König Uns nach Escandara gebeten hatte? Über 5 Jahre sind nun ins Land gezogen – lange dauerten die Forschungen der Gelehrten, um aus dem Verdacht eine Gewissheit werden zu lassen. Auf jener Insel fanden Unsere tapferen Seeleute die Beweise, dass sie einstmals ein Teil des heligonischen Reiches war. Vor hunderten von Jahren siedelten dort unsere Vorfahren, doch hinterließen uns nur Ruinen. Diese symbolträchtigen Zeugnisse sprechen eine deutliche Sprache: die glorreiche Grafschaft Darian hat die wichtigste Stätte der Vergangenheit entdeckt.
Das offene, freundliche Wesen Unserer Seeleute führte dazu, dass sie sich mit den Einheimischen anfreundeten. Gemeinsam bauten sie die ruinösen Hafenanlagen wieder auf, um weitere Schiffe Unserer Seeflotte zu empfangen. Diesem behutsamen Vorgehen haben Wir es auch zu verdanken, dass sich die Inselbewohner voller Freude Unserer Grafschaft anschlossen. Gemeinsam bewirtschaften sie nun den Handelsposten mit ebenso viel Fleiß, wie Wir es von Unserem geliebtem Volk gewohnt sind.
So wie einst der Göttervater Helios auf dem Sonnendrachen Crelldinor ritt, ebenso stolz ritten unsere tapferen Seeleute auf den Darbor-Koggen über die stürmische Jolsee.
Die Einzelheiten dieses epischen Abenteuers werden Wir für euch und alle nachfolgenden Generationen niederschreiben. Dies sei euch noch gesagt: die Insel ermöglicht einen sicheren Hafen auf dem waghalsigen Seeweg nach Modestia.
Um die Götter zu ehren, haben Wir beschlossen dem Einland den Namen „Redonia“ zu schenken!“
Nach diesen Worten ließ der geliebte Herrscher seinen Untertanen einen Moment des Nachsinnens. Aus seinem Schatten trat eine prächtig gekleidete Frau, deren Hand er in seine nahm.
„So lasset Uns diese tapfere Schildmaid begrüßen: Aleyna AyBytan, Gouverneurin von Redonia! Sie wird Unsere Interessen in der neu gegründeten Hafenstadt „Dedekistan“ wahren und in Unserem Sinne über die Insel gebieten. Sie wird am längsten Tage des Jahres eine Armada nach Redonia führen, um dort die Erschließung der Insel und deren Besiedlung voranzutreiben. Jede Frau und jeder Mann, der Teil dieser heldenhaften Fahrt sein möchte, ist herzlich willkommen.“

Die rasende Menge tobte, der Jubel schwoll zu einem Donnerbrausen an bevor sie sich eilends aufmachte die zahlreichen Schänken zu besuchen. Es wurde schnell getrunken, denn die Nacht währte nur kurz. Viele musste noch ihre Habseligkeiten packen, um dann auf einem der Schiffe nach Redonia anzuheuern.

Der Bergleute Klage

Eure Großzügigkeit Graf Dedekien versorgte nicht nur die Hinterbliebenen des Unglücks, sondern ersann ein Klagelied, das fortan von den Barden im Reich vorgetragen wird.

Wir gingen in den tiefen Schacht
Ein in des Todes lichte Nacht
Jetzt ruhen wir im ewigen Schlaf
Still, ohne Schrei und Schrecken.
Wir sind wohl wie ein Haufen, der
beherzt am Feind geblieben.
Nun sorgt der Graf für unsre Lieben!
Wir haben unser Leben lang
mit Stöhnen, Fluchen und Gesang
die Stollen vorgetrieben.
Und wie dem Bauern seine Flur
Dem Schäfer seine Weide,
So lieb war uns der tiefe Schacht
Wer tat uns dies zuleide!
Unser Leben still verrinnt wie Quellenlauf im Sande.
Möge Gwon uns finden!
Seid frischen Muts und frohem Herzen.
Ihr heliosbeschienenes Volk.
Kühn trotzend den Gefahren.
Doch klopft der Kobold tief im Schacht
Dann habe acht!

Heute wird der verehrte Landesherr zu seinen Untertanen sprechen, so wie er es all die Jahre seiner glorreichen Regentschaft getan hat. Schon viel zu lange mussten die Kinder der schönsten Stadt auf die süßen Worte ihres geliebten Grafen warten. Umso größer war ist die Menschenmenge, die sich unter dem Balkon vor dem Palast drängte. Jede Frau und jeder Mann versuchte noch einen Platz zu ergattern, um der gräflichen Rede zu lauschen.
Endlich ist der große Moment gekommen. Just als Helios seine letzten Strahlen über den Horizont ergießt, erscheint Graf Dedekien auf dem Balkon, was augenblicklichen einen Sturm der Begeisterung auslöste. Doch ebenso schnell wie der Jubel ertönte, verstummte er auch wieder. Der ansonsten prächtig bunt gekleidete Herrscher war gänzlich in Schwarz gehüllt – der Graf trägt Trauer!

In das laute Schweigen hinein, sprach er mit gedämpfter Stimme: „Mein geliebtes Volk! Wir haben einen schmerzlichen Verlust zu beklagen.“

Graf Dedekien wandte sich kurz ab, damit ein Diener mit einem Seidentuch eine Träne trocknen konnte, die über die gräfliche Wange floss.

Er hob erneut an: „Die gräflichen Kupferbingen im Schlangenkamm sind Unser ganzer Stolz. Bewegen Wir im Geiste unser Auge von dort nach Utras Dar, dann erblicken Wir das einstmals unbedeutende Minenarbeiterhaus. Nun ist jene Taverne „ Zum Schluckloch“ ein Ort der Begegnung und des blühenden Handels geworden. Doch hat sich diese Heimstatt des friedlichen Austausches zum Schauplatz eines erschütternden Unglücks gewandelt. Dutzende tapferer Frauen und Männer sind dort in den Bingen unter Schutt und Geröll begraben worden.“

Die Menge schluchzte bei diesen Worten wie aus einem Munde. Noch bevor ein lautes Wehklagen einsetzen konnte, erhob der Graf seine Stimme erneut: „ Ihr fragt Euch, wie kann dies geschehen? War es ein Unfall? Der Wille der Götter? Oder gar Sabotage?
Letzteres wollen Wir nun genauer untersuchen. Neid und Missgunst begleiten Uns seit jenen Tagen, da Wir Unser schönes Land wieder zu großem Ruhm verholfen haben. Glauben Unsere Widersacher, dass Wir von Unserem Vorhaben Darian wieder groß zu machen, abzuhalten sind?“ Graf Dedekiens Stimme wurde immer lauter und eindringlicher: „Wo waren die königlichen Schergen, die immerfort den Schlangenkamm durchstreifen, um Unseren braven Kaufleuten das Handwerk zu erschweren? Wie konnten grausame Verbrecher den sonst so wachsamen Augen der königlichen Obrigkeit entgehen? Hat das Alter die Sehkraft des Königs getrübt? Zeigen Wir es dem Greis auf dem Thron in Escandra! Nehmen Wir Unsere Verteidigung selbst in die Hand! Wir haben die Schuldtürme geöffnet, damit die Insassen ihren Dienst im Schlangenkamm verrichten können. Sie werden die Wachen, Soldaten, Büttel und Ordnungshüter dabei unterstützen Unsere wohlschaffenden Händler zu behüten. Jede Frau und jeder Mann, der Teil dieser heldenhaften Aufgabe sein möchte, ist herzlich willkommen.“

Die rasende Menge tobte, der Jubel schwoll zu einem Donnerbrausen an bevor sie sich in die zahlreichen Schänken der Stadt zerstreute. In den Tavernen flossen reichlich Freigetränke
und es wurden tausende Heuerverträge unterschrieben.

Es wurde getrunken und geweint bis in die Morgenstunden, so dass die Omus Mühe hatten, die zornigen Worte des mächtigen Herrschers in alle Winkel des Reiches zu rufen.

Neulich im Gasthaus „Zum geprellten Zecher“

In der kleinen, aber geschichtsträchtigen darianischen Ortschaft Ravani, sehr nahe der sedomeesischen Grenze betreibt unsere Familie seit vielen Generationen das gepflegte Gasthaus „Zum geprellten Zecher“. Eines schönen Tages, als angenehme Frische der Poenamonde bereits in die sengende Hitze der Heliosmonde umschlägt, lässt uns Vetterchen das ganze Haus putzen. Es ist nicht etwa so, dass wir unser Gasthaus nie putzen, aber eben nie einfach so unterm Jahr. Ich frage natürlich: „Vetterchen, warum lässt Du uns das Haus putzen, wo sich doch noch nicht einmal richtiger Schmutz angesammelt hat?“ Die Antwort kam prompt und ohne spannende Vorgeschichte: „Wir bekommen morgen hohen Besuch aus Darbor und Marola. – Keine weiteren Fragen jetzt, gehe zum Fluss, hole Wasser und fange an zu schrubben.“ Was haben wir unser eigentlich schon schönes Gasthaus noch prächtiger gemacht, denn solch hohe Gäste hatten wir noch nie.

Pünktlich zur Mittagsstunde treffen dann die beiden Delegationen aus Sedomee und Darian ein. Mit ernster Miene schütteln sich die prächtig gekleideten Damen und Herren die Hände. Vetterchen weist ihnen eine separate Gaststube zu, damit die Verhandlungen ungestört ablaufen können. Ich war so neugierig und wollte unbedingt die Bedienung der Delegation übernehmen. Aber Vetterchen meinte, dass sie keine Störung dulden werden. Zwei Stunden lauschte ich angestrengt, um etwas interessantes zu vernehmen, doch es war nichts zu hören. Plötzlich vernahmen wir fröhliches Lachen aus der Gaststube. Zwischen dem angeregten Gespräch war sogar liebliche Musik zu hören. Jetzt durfte ich die Gaststube betreten, denn der Schreiber aus Sedomee bestellte einen Schlauch Wein nach dem anderen. Die Gesellschaft war schon recht ausgelassen und ging dann zum Abendessen über. Viele Stunden dauerte die Feier noch an und wir konnten erst im Morgengrauen zu Bett gehen.

Am nächsten Morgen verabschieden sie die beiden Delegationen voneinander mit einer herzlichen Umarmung, nachdem sie einen gemeinsamen Götterdienst abgehalten hatten. Der sedomeesische Schreiber drückte Vetterchen und mir noch ein ordentliches Trinkgeld in die Hand. Völlig verblüffte blickten wir den beiden Gruppen noch eine Weile nach, die sich immer wieder zum Abschied zuwinkten, bis sie aus unserem Blickfeld verschwanden. Die einen setzten wieder über den Fluss in Richtung Sedomee über und die anderen zogen gen Süden.

Wir haben uns noch tagelang gefragt, ob es denn an unserem sauberen Haus lag, an unserem schmackhaften Essen oder an unserem betörenden Wein, dass sich die beiden Delegationen so gut verstanden hatten. Vetterchen meinte: „Sie kamen als Feinde und gingen als Freunde.“ So beschlossen wir die weisen Worte unseres Vetterchens auf ein Brett zu schreiben und es in die Gaststube zu hängen, als Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag. Obgleich sich bei mir schon wieder Zweifel regen, ob das mit der Freundschaft für unser Geschäft so gut ist. Das wird uns aber die Zukunft zeigen, jetzt müssen wir erst mal das Trinkgeld gut anlegen.

Das Al’Palaver von Darwena

Der Saaroko rüttelte an den blanken Zeltwänden wie ein unduldsam ausgesperrter Gast. Jene, die im großen schwarzen Zelt des Grafen Dedekien in den hinteren Reihen saßen – sei es weil sie erst seit kurzem ihr Amt inne hatten oder weil sie die Ältesten nur unbedeutenderer Örtlichkeiten waren – hatten ihre liebe Not. Gegen den eisigen Griff der Göttin hielten sie sich die weichen Buraifelle einfach an Rücken und Nacken, anstatt darauf zu sitzen, kauerten so jedoch im unbequemen Wüstensand. Wider den knallenden Lärm der Planen und der damit verbundenen Schwierigkeit, keinerlei Anteil am Verbaal’dowern im inneren Kreis haben zu können, half nur wildes Gestikulieren und laute Zwischenrufe, auf dass das Gesagte über mehrere Münder von innen nach außen und zurück echotet wurde. Die Stunden verstrichen wie im Fluge, die erhitzten Gesichter der Anwesenden – allesamt namhafte und huldvolle Amt- und Würdenträger der großen Grafschaft – glühten rot, die Augen leuchteten fiebrig und ein jeder plapperte aus vollem Halse wild durcheinander. Nach draußen drang der ungeheuerliche Lärm nur mäßig gedämpft, dunkelste Nacht war über die windumtoste Shayed-Wüste hereingebrochen und der sternenklare Himmel lag, gleich einem noch größeren Zeltdach, still über allem.

Es war der Tag des Al’Palavers zu welchem Graf Dedekien die Mächtigsten, Wichtigsten und Namhaftesten in die Mitte seines Reiches nach Darwena geladen hatte. Seine Hochgeboren war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen, einem hohen Beamten oblag es die Ratsversammlung ungefähr in Kenntnis zu setzen. Jedoch nicht eben erfolgreich, wie Geschrei und Gezeter erahnen ließ. Als der Tumult am größten war und die Männer anfingen, sich gegenseitig an den krausen Bärten zu ziehen, glitten mit einem Mal zwei Zeltplanen zur Seite und eröffneten der Menge den Blick auf eine bis dato verborgen gebliebene Nische des übergroßen Zeltes. Helles Lampenlicht drang daraus hervor, so leuchtend, dass die Menschen sich zunächst die geblendeten Augen bedecken mussten. Alsdann gewahrten sie ihren Herrn Dedekien auf einem erhöhten Steinsessel, es muss Alabaster gewesen sein. Prachtvoll war seine Hochgeboren anzuschauen. Zu seinen Füßen knieten auf edlen Fellen, laszive aurazithumhängte Schönheiten beiderlei Geschlechts. Die vielberingte rechte Hand des Grafen strich sanft über die Stirn eines schläfrig dreinschauenden Wüstentigers. Gewandet war der Erste Darianer in reinstem weiß; nur Samt und Seide, sowie edelste Nordpelze bedeckten seine Haut. Da herrschte mit einem Mal absolute Stille im Zelt, keiner der Anwesenden wagte nur zu atmen. Wie in Trance ließen sie von ihrem bisherigen Tun ab und starrten wie gebannt auf jene Lichtgestalt, die ihr heliosgegebener Herr und Meister war. Dieser saß nur da und schaute huldvoll reglos auf die Seinen. Sein Antlitz glich in diesem Augenblick einer jener aus Stein gehauenen Büsten. Einzig die geölten Spitzen seines prächtigen Schnurrbartes bebten – ein sicheres Zeichen des übergroßen Unwillens des großen Herrschers. Also senken die Anwesenden vor dem sich abzeichnenden Grollen die Häupter, zogen vorsorglich das Genick ein und schämten sich für ihr soeben noch an den Tag gelegtes schlechtes Benehmen. Allein, es kam ganz anders, der Graf schwieg weiter, die Stille nahm zunehmend schmerzhafte Qualität an und die Menschen darbten sichtlich. Da setzte sich seine Hochgeboren in einer fließenden Bewegung auf, hob die Arme und was er nun zu verkünden hatte, fiel wie warmer Heliosregen auf seine Untergebenen herab:

„GELIEBTES VOLK!“
Jäher Jubel toste auf und brandete in Wellen durch das Zelt. Hüte, Turbane, Feze und andere Kopfbedeckungen flogen wie wilde Vogelschwärme durch die Luft, bis die Menge einvernehmlich mit einem vielstimmigen:
„GELIEBTER HERRSCHER!“ die traditionelle Antwort fand, worauf wieder Stille herrschte, um die weiteren Worte des Grafen zu hören.

„Geliebtes Volk!“ Wieder wollten Begeisterungsstürme anschwellen, doch Dedekien unterband dies mit dem gestrengen Heben der linken gezupften Augenbraue und so ward es wieder still.

„Geliebtes Volk! Lasst mich von den alten Zeiten sprechen. Von einer wahren Geschichte, die seinerzeit in aller Munde war und von Feuer zu Feuer getragen wurde. Damals lebte an dieser Stätten ein junger, aufstrebender Prinz, der vollkommen arglos im Herzen und vom unerschrockenen Mute eines jungen Löwen war. Jener Prinz beschloss in seiner jugendlichen Ungezügeltheit, den Göttern der Wüste zu trotzen und allein, ohne jedwede Wegzehrung, in die Wüste zu ziehen. Denn große Dürre hatte ihm in den Seinen seit Monden stark zugesetzt und das Land austrocknen lassen wie einen einhundert Jahre alten Buraifladen. Bevor er den ersten Schritt in die niederhöllische Hitze tat, traten seinen Verwandten eng an ihn heran und wollten den Prinzen von seinem Vorhaben abhalten, denn sie liebten ihren Anverwandten sehr. Zuerst stellte sich ihm der Bruder in den Weg und sagte: „Sohn meiner Mutter, Blut von meinem Blut, was willst du dort hinaus in die tödliche Dürre, warum hast du abgeschlossen mit deinem Leben?“ Da antwortete der Prinz: „Ich gehe suchen und werde finden, was am sehnlichsten wir benötigen, halte mich nicht auf!“ Da wandte sich der Bruder ab und schlug sich mit den Fäusten auf die Brust, das es krachte, denn er wähnte ihn nie wieder zu sehen. Alsdann trat die Mutter herbei und greinte: „Kind, mein Kind, warum willst du im Sandmeer ertrinken, was suchst du zu finden, was deucht dir so wertvoll?“ „Liebe Mutter“ antwortete da der Prinz, „in deinem Auge sehe ich keine einzige Träne, so geschunden ist dein Leib von Dürre, was ich suche? Du kannst es erraten.“ Da zerfurchte sich das Weib ihr Antlitz gramerfüllt mit spitzen Nägeln und schrie ihren Schmerz den Göttern zu. Letztlich legte der Vater unserem Prinzen beide Hände auf die Schultern und hielt ihn fest im Blick: „Was ist dein Begehr und Wille, Frucht meiner Lenden, was soll werden mit dir in den mörderischen Dünen und was mit uns, da dein Tod unsere Herzen ersterben lassen wird? Lohnt dein Ziel über alle Maßen?“ „Vater, guter Vater, Wasser suche ich zu finden und hernach zu euch zu bringen, damit das Darben ein Ende hat und wir leben wie einst in meiner Kindheit, da kühle, sprudelnde Quellen unsere Füße reichhaft umspülte.“ Da gab der Vater dem Sohn neben seinem Segen drei Dattelkerne sowie einen Schlauch, gefüllt mit dem letzten Xurltrunk des Tages. Also begab sich der Prinz auf die gefährliche Wanderung durch die Shayed-Wüste und vor lauter Mut und Zuversicht, gab es in seinem Herzen kein Raum für Furcht und Argwohn. Sieben mal sieben Tage zog er erfolglos umher, der Schlauch war schnell getrunken, die Dattelkerne vom vielen Lutschen letztlich so dünn wie Spinnenhaar. Die Kleider lagen in Lumpen auf seinem Körper, seine Haut glich gegerbtem Leder und quälender Durst marterte seinen Körper und seine Seele. Dennoch kamen ihm Umkehr oder Aufgabe nicht in den Sinn. Als am fünfzigsten Tag seine Füße festen Grund betraten, wollte er dies zunächst kaum glauben, wähnte sich von Sinnen oder bereits auf Gwons tröstenden Schwingen. Doch als der feste Grund sich mit einem Mal zu Schlamm und letztlich zu dem kühlen Nass einer großen Oase wandelte, da dankte er den Göttern und war voller Freude und Stolz über sich selbst. Er tauchte seinen Kopf in das Wasser, trank und trank bis sein Durst gestillt war. In Gedenken an seine Verwandten zu Hause machte sich nun sogleich daran, den leeren Lederschlauch seines Vaters mit der süßen Flüssigkeit zu füllen. Als er erkannte, dass dies kaum den Durst aller stillen würde, zog er seine Stiefel aus und füllte diese ebenfalls. Damit immer noch nicht zufrieden, fertigte er aus den Lumpen, die einst seine Kleider gewesen waren weitere Behältnisse an und füllte diese ebenfalls. So vollkommen nackt doch schwer bepackt, lief er schleunigst nach Hause, ohne auch nur einen Tropfen verschüttet zu haben. Bei den Seinen angekommen, staunten diese nicht schlecht. Das mitgebrachte Wasser wurde an alle verteilt und bevor die Familie sich aufmachte, ihre Zelte an der entdeckten Oase neu aufzuschlagen, feierten sie gemeinsam ein großes Fest des Stolzes und der Dankbarkeit für ihren heldenmütigen Prinzen… So die Geschichte.“

Als Graf Dedekien mit seiner Erzählung geendet hatte ließ er den Blick über die Menge schweifen, schaute teils in nachdenkliche und teils in verwirrte Gesichter. „Was ich euch mit dieser Geschichte, die sich natürlich getreulich so zugetragen hat, sagen möchte fragt ihr euch? Nun, auch wir, das Volk Darians, leben in Zeiten großer Dürre. Doch wie soeben von meinem Beamten zu erfahren war, ist die Oase, die uns und unsere Kinder zu tränken und zu nähren vermag, nicht fern. Lasst uns aufbrechen in eine neue Zeit der fetten und freudigen Jahre. Hierzu ist, wie ihr gehört habt, nur eines wichtig: gebt mir, was ihr erübrigen könnt, gebt mir euren letzten Dattelkern und ich führe euch, wie einst der Prinz, aus der öden Wüste in eine wundervolle Oase des süßen Nasses. Und wer nicht mit uns ziehen kann, der soll bei unserer Rückkehr erhalten, was wir nur irgend tragen konnten. Auf, auf in die Oase!“ …

Wie eine erhabene Karawane wanderte zu dieser Stunde bereits schaukelnd die Morgenröte am Horizont heran, mit sich führend, die kostbaren Waren eines neuen Tages, die da heißen Heil, Trauer und Hoffnung. Auch der Hall des frenetischen Jubels aus dem Zeltinneren vermochte es nicht, diesen Neuankömmling zu vertreiben.

„Nicht zu scherzen!“

Für gewöhnlich interessierten sich die DarborerInnen eher weniger für die amtlichen Aushänge am Redonsbrunnen. Doch dieses Mal sorgte der in großen Lettern geschriebene Aufruf für Diskussionsstoff. Ein überraschtes Murmeln und zustimmendes Nicken war zu vernehmen, denn der Appell des Großwesirs rannte offene Türen ein:

„Werte BürgerInnen Darbors – Wir brauchen Euch! In den letzten Monden verschwand ein vertrauter Anblick aus den Gassen unserer geliebten Stadt. Das Bettelvolk hat sich gänzlich zurückgezogen. Dies kann nur darauf zurückgeführt werden, dass so viel für alle da ist, dass keiner mehr gewillt ist, seinen Lebensunterhalt zu erbetteln. Erst jetzt begreifen wir, was wir verloren haben. Wohin mit unserer Mildtätigkeit? Der Verlust von sozialen Kontakten, wenn wir einsam durch das Hafenviertel streifen, ohne ausgeraubt zu werden. Die exzellente Unterhaltung, wenn uns ein Gestrandeter eine traurige Geschichte erzählte. Die körperliche Nähe, wenn sich Krüppel an unsere Beine festklammerten, um ein Stück Brot zu ergattern.

Jeder ist aufgerufen, diesem Missstand ein Ende zu bereiten. Daher bieten Wir euch die Gelegenheit ein Stück darianer Kultur uns unsere Stadt zurückzubringen. Ein jeder, der sich der Tradition der Bettler und Schnorrer verpflichtet fühlt, kann für einige Stunden diese Rolle übernehmen. Entsprechende Kleidung, ein rostiges Messer und eine Bettelschale werden gestellt, ebenso erfolgt eine kurze Einweisung in das Gewerbe.

Nach erfolgreich erledigtem Einsatz wird eine Aufwandsentschädigung ausbezahlt. So zögert nicht, liebe BürgerInnen und meldet euch zum freiwilligen Dienst beim Hintereingang des Palastes, linke Tür mit der Aufschrift „Kulturamt“.

Möge sich das Volk am Segen des „Füllhorns“ laben – Imposante Rede Graf Dedekiens an sein Volk

Am heutigen Tage pulsiert das Leben mehr denn je in der schönsten Stadt des Königreichs. Im Hafen herrscht emsiges Treiben, müssen doch die reich beladenen Schiffe aus den Südlanden gelöscht werden. Doch noch ein weiteres aufregendes Ereignis führt dazu, dass sich die Menschen durch die engen Gassen in Richtung Palast drängen. Endlich ist der Tag gekommen, den die Darianer stets mit unbändiger Freude herbeisehnen. Heute wird der geliebte Landesherr das Wort an seine Untertanen richten, die sich bereits in beschwingter Erwartung auf dem Platz vor dem Palast eingefunden haben. Schließlich galt es nicht nur die Worte des verehrten Gebieters zu vernehmen, vielmehr möchte jeder noch einen Platz ergattern, der auch einen Blick auf den vergötterten Herrscher gestattet.

Der ohrenbetäubende Lärm der Menschenmasse erstarb augenblicklich, als Graf Dedekien auf seinen Balkon trat. Doch dann zerriss der Sturm der Begeisterung die nur kurz anhaltende Stille.

Sichtlich gerührt ließ der Landesvater seine Kinder für eine Weile gewähren, bis er seine Hand erhob, um Schweigen zu gebieten.

„Mein geliebtes Volk!
Die Götter sind Uns wohlgesonnen. Nach vielen Monden auf rauer See sind unsere Schiffe aus den Südlanden reich beladen zurückgekehrt. Noch viele Tage wird es dauern, bis Wir alle Schätze gesichtet haben und Uns ein Bild vom Umfang der Reichtums machen können. Doch soviel sei gesagt: ein jeder Unserer geliebten Untertanen soll teilhaben am Überfluss.“

Noch bevor die Menge erneut in rasende Begeisterung ausbrechen konnte, erhob Graf Dedekien seine Stimme:

„Wir haben beschlossen, dass ihr alle an den edlen Speisen und erlesenen Getränken Unserer Tafel teilhaben sollt, denn es ist mehr als genug für alle da. In der eigens für Unser Vorhaben eingerichteten Taverne „Zum Füllhorn“ werden fortan an jedem Abend die Überschüsse Unseres Mahles gereicht. Ein von Uns berufener Beamter wird dafür sorgen, dass die Verteilung über alle Maßen gerecht wird und sich alle an Unserem Segen laben können.“

Nur mit Mühe konnte der Landesvater seine Rede fortführen, da die Woge der Ergriffenheit ihn sichtlich rührte:

„In anderen Ländereien sind Armenspeisungen üblich. Diese sind eines Darianers nicht würdig. Unsere geliebten Untertanen erhalten keine Almosen, sie nehmen Platz an Unserer Tafel.“

Die Menge applaudierte, bis die Handflächen zu schmerzen begannen.

Diese Worte tragen nun die Omus in alle Winkel des Reiches, damit die Großzügigkeit des verehrten Herrschers an alle DarianerInnen verkündet wird.

Ein blutroter Streifen am Horizont über der Wüste im Westen war alles, was noch an den brütend heißen Tag erinnerte. Die Dämmerung war kurz in Darbor, der alten Hafenstadt Darians, und wie immer um diese Zeit kam vom Meer her eine frische Brise auf.
Nach der allmonatlichen (und wie gewohnt herausragend einzigartigen) Rede ihres geliebten Herrschers Graf Dedekien waren die Straßen noch immer gefüllt von glücklichen Menschenmassen, deren Euphorie sich langsam in wohlige Zufriedenheit wandelte, als man die kühlen Dachterrassen aufsuchte, um dort das müde Haupt zu betten. Leise Stimmen erfüllten die von Saarkas Sichelmond erhellte Nacht, sporadisch durchmischt von einem Lachen, einer zirpenden Grille, einer quietschenden Tür oder einem bellenden Hund.
Auch der uralte Onkel Faisal saß zurückgelehnt auf dem Dach seines Hauses auf einem riesigen Kissen, die Wasserpfeife in der einen Hand, einen Becher Wein in der anderen und zahlreiche Familienmitglieder um sich herum. Wieder einmal hatten sie darum gebeten, seine Geschichte vom Nech-Burai zu hören, dem sagenhaften, geflügelten weißen Burai, das er vor sehr langer Zeit einmal gesehen hatte. Wieder einmal erzählte er sie geduldig.
Als er geendet hatte, verabschiedeten sich seine Zuhörer nach und nach, um sich schlafen zu legen. Nur die kleine Nuha saß noch auf seinem Schoß.
Sie war den Sommer über bei Faisals Familie einquartiert. Wie viele Darianer waren auch Nuhas Eltern seit ein paar Jahren gezwungen, geschäftlich ins Ausland zu gehen. Während sie die Saison über in der Grenzgegend von Thal und Tlamana im Norden arbeiteten, erlebte Nuha eine großartige Zeit in Darbor.
„Onkel, diese Geschichte von dem geflügelten weißen Burai erzählst du so oft… ich weiß, alle mögen sie gerne, aber ich würde lieber etwas ganz neues hören… etwas, das du noch nie erzählt hast!“
„Etwas neues, ja?“ Nachdenklich strich sich Faisal durch den Bart. „Was möchtest du denn hören? Gibt es etwas, das dich besonders interessiert?“
Nuha überlegte nicht lange. „Ja, so etwas gibt es! Ich würde gerne wissen, warum deine Frau Salimah so jung ist, obwohl du doch schon so alt bist. So alt, dass die Leute sagen, niemand sei so alt wie du.“
Faisal schmunzelte. „Ja, so sagt man wohl… da ist dir eine gute Frage eingefallen und ich könnte dir erzählen, warum das so ist. Aber es ist ein Geheimnis, und wenn du es kennst, darfst du es nur weitererzählen, wenn Salimah oder ich es dir erlaubt haben.“
Nuha nickte eifrig. „Versprochen!“ flüsterte sie.
„Alles begann vor sehr langer Zeit. Damals waren Salimah und ich jung. Genau gleich jung! Und wir hatten uns sehr gern.“
„Wirklich? Gleich jung?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal schloss für einen Moment andächtig oder vielleicht auch müde die Augen und fuhr fort. „Zu unserem Glück konnten sich unsere Eltern einigen und wir heirateten, sobald wir alt genug waren. Wir hatten ein großes Zelt, eine stattliche Buraiherde und im Handumdrehen viele Kinder, und wir alle lebten glücklich, bis eines Tages Salimah sehr schwer krank wurde. Du hast vielleicht gehört, dass sie lange fort war?“
„Oh ja! Sie war fort, das habe ich gehört.“
„So kann man es sagen, doch war sie wirklich unvorstellbar weit fort. Sie ist damals nämlich immer schlimmer krank geworden, und in einer dunklen Nacht hat sie die Welt der Lebenden verlassen.“
„Wirklich? Sie ist gestorben?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal seufzte und blickte aufs Meer. „Wir alle waren sehr, sehr traurig. Und ich habe nicht glauben können, dass ich sie nie wiedersehen sollte. Ich hatte Angst, ohne sie alt werden zu müssen. Doch dann begegnete ich dem Nech-Burai… und ich hatte das Gefühl, dass ich warten musste. Bis sie wiederkommt.“
„Und vor ein paar Jahren ist sie tatsächlich wiedergekommen?“
„Ja. Und sie hat etwas ganz und gar Unglaubliches erlebt! Sie hat Gwon getroffen, den Götterfalken, der sie zu den Sternen ins Reich der Toten nehmen wollte. Er machte sich auf mit ihr, doch auf halbem Weg kamen sie an einen Ort, der Salimah an eine Karawanserei erinnerte. Dort wurde sie abgesetzt. Es gab dort auch andere Seelen, und es war für alle gesorgt. Manche waren schon länger dort, manche erst kurz. Hin und wieder, so schien es, bringt Gwon die Toten nur bis an jenen Ort und nicht bis zu den Sternen. Warum das so ist, hat Salimah nicht herausgefunden. Normalerweise, so sagte sie, werden die Seelen nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt abgeholt, um endgültig zu den Sternen zu reisen. Doch manche dürfen auch zurück.“
„Wirklich? Und sie durfte zurück?“
Faisal nickte.
„Nein!“
„Doch.“
Faisal schürzte die Lippen. „Es war aber nicht einfach. Von Zeit zu Zeit wird dort, in der Karawanserei zwischen den Welten, ein sehr kompliziertes Spiel gespielt. Wer es gewinnt, darf wieder zurück zu den Lebenden. Doch das gelingt nur selten.“
„Aber sag, Faisal, warum hat es denn so lange gedauert, bis sie wieder hier war?“
„Das weiß ich nicht. Für sie schien es aber nicht ganz so… lang wie für mich gewesen zu sein, wie man an unserem Altersunterschied sehen kann.“ Faisal seufzte schwer. „Jedenfalls weißt du jetzt, warum Salimah und ich gleich alt sind und ich trotzdem viel älter.“ Faisal lächelte. „Doch nun gehen wir schlafen.“
Die beiden gingen hinüber zum Nachtlager, wo die anderen Familienmitglieder schon schliefen. Eigentlich, dachte Faisal, hatte er großes Glück gehabt. Denn schöner hätte der Abend seines langen Lebens nicht kommen können.
„Gute Nacht, kleine Nuha.“
„Gute Nacht, Onkel Faisal!“

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