Boten-Teil: Drachenhainer Herold Seite 5 von 6

Altes Blut und neue Herrschaft in Sengenberg – Teil III Ende und Anfang: Der Auftrag

Nichts Geringeres als der Friede im Herzen Drachenhains stand auf dem Spiel, als Kanzler Giselher von Mühlenheim sommers die Durchführung eines Sonderauftrages überantwortet bekam. Im Einvernehmen mit den Vertretern der Sengenberger Stände solle dafür Sorge getragen werden, die “gegenwärtige politische Situation” im Lande dahingehend zu nutzen, die Menschen Sengenbergs endlich unter einer stabilen Herrschaft zu vereinen. In der Tat, kein leichtes Unterfangen! Mehr als eine namhafte Person der Drachenhainer Vergangenheit musste die leidvolle Erfahrung erdulden, dass dem sengenberger Landvolk mit “den üblichen Mitteln”, in keiner Weise beizukommen ist. Hoffnungen weckten allerdings jene vorausgegangenen Signale des rebellischen Landvolkes, der so genannten Haufen, sich unter bestimmten Umständen, der feudalen Ordnung des Fürstentums zu beugen.

Zur besseren Lesbarkeit: In früheren Helios-Boten, vor allem Ausgabe #76 und #77, steht ausführlich die schwierige politische Lage beschrieben, unter welcher Sengenberg seit mehr als 21 Jahren krankt, und kann von Unwissenden eben dort nachgelesen werden.

Ein sehr langer Tisch – Tharlisburger Unterhandlungen
Die derzeitige Waffenruhe in Stueren im Rücken – sowie den namhaften Haufler Dolores als Faustpfand auf der Feste – nutzte Drachenhain die Gunst der Stunde, um in Person Kanzler Giselhers, das ordnende Licht Helios’ gen Sengenberg zu tragen.
Von Tharlisburg aus, einer westlich gelegenen Zwingfeste, lud dieser die Repräsentanten der unterschiedlichen Stände an den Verhandlungstisch, um einzeln und an geheimen Orten, konkrete Unterhandlungen zu führen. Hierzu berief der Kanzler ebenso Landkomtur Wentorius von Waldhort, als nominellen Herrn des Landes, wie auch die Fürsprecher des einfachen Landvolkes, die Anführer der Haufen. Namentlich Breanys Vanya, Fjaerul Barnas und Alenka Sophie – das vielbeachtete “Letzte Blut der alten Drachenberger Linie” – für Thiems Haufen. Aber auch namhafte Vertreter des erweiterten Adels, der Städte Triburk, Schildbrück und Echsenau, des ceridischen Klerus und nicht zuletzt der ogedischen Geweihtenschaft, nahm der Kanzler bei seinen Gesprächen in die Pflicht.
Über Verlauf und Inhalt dieser mondelangen Unterhandlungen ist wenig mehr bekannt, als dass sie nicht selten hitzig und verbissen geführt worden waren. Mehr als einmal stand die Sache wohl auf Messer’s Schneide. Doch ersten Verlautbarungen zufolge, sei in den letzten Wochen tatsächlich ein enormer Durchbruch erzielt worden.
Sollte dies tatsächlich der Wahrheit entsprechen, wäre dies wahrlich ein Meilenstein in der jüngsten Drachenhainer Geschichte. Mögen die Götter diesen Traum wahr werden lassen!

Die Vorfälle um das Borharcônerlager Orlatas und seine Folgen

Rund um das Borharcônerlager Orlatas waren im letzten Frühsommer auch etliche heligonische Reisende in einen Zwischenfall verwickelt, der von den Stuerener Herren als Aufstand gewertet wird, von heligonischer Seite aus betrachtet aber als heldenhaftes Eingreifen in schicksalhafter Stunde gesehen werden muss. Es darf als Überraschung gelten, dass das Stuerener Herzogshaus dies nicht zum Anlass nahm, den Waffenstillstand zu beenden und wieder das Schwert zu ergreifen: In einer schmallippigen Depesche wir das Verhalten der Heligonier als kurzsichtig und verblendet bezeichnet und es wurde darum gebeten, doch „die eigenen Leute bei sich zu behalten“.
Für das Vasallenvolk der Stuerener stellt sich die Situation allen mehr oder weniger unklaren Nachrichten nach aber ganz anders dar: Das stuerener Herzogshaus wertet den Vorfall als lokalen Aufstand und bedrückt seither die Borharcôner mit eiserner Hand. So gelangen Berichte zu uns, der Menschenzehnt sei früher als sonst eingefordert worden, eine Sonderkriegssteuer werde eingetrieben und zahllose kleine Schikanen würden stattfinden. Zuletzt wurde die große Frühjahrszusammenkunft der Borharcôner in Gösta untersagt, um „Zusammenrottungen“ und „aufständische Umtriebe“ zu unterbinden.
Es bleibt abzuwarten, wie die Reaktion der Betroffenen sein wird und ob dies Auswirkungen auf Drachenhain haben wird. Diese Fragen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Thema bei den Unterredungen im Vorfeld der Herrscherbegegnung sein.

Wachwechsel in der Ballei Sengenberg

Dem Rufe seines Großmeisters folgend (der HB 78 berichtete), reichte Landkomtur Wentorius von Waldhort beim Fürsten seine Bitte um Abschied als Landesherr der Ballei Sengenberg ein. Anlässlich eines kurzen Besuches in Triburk, stimmte seine Durchlaucht dem Gesuch ohne Verzug zu und bestätigte sogleich den jungen Templer Ritter Herse von Gundelan als Nachfolger. Ritter Wentorius von Waldhort, sowie eine große Zahl sengenberger Kriegerbrüder, verließen beritten noch zur Morgenstunde des nächsten Tages das Land.

Prinz Halmar auf Feste Drachentrutz gerufen

Nach sechsjähriger Lehrzeit und Erziehung im Rittergut Pfauenkamm zu Tlamana, sahen Fürst Leomar und Baronin Leabell die Zeit gekommen, ihren 13-jährigen Erstgeborenen gen Drachenhain zu rufen. Im Lande seiner Vorväter soll der Prinz fortan nach und nach an die Regierungsgeschäfte des Vaters herangeführt werden. Seinem ausdrücklichen Wunsche folgend, wird Prinz Halmar Arwell zunächst in der Hauptsache die Drachentrutzer Knappenschule besuchen und dort auch bis zum Tag seiner Schwertleite untergebracht sein. Daneben werde es aber immer wieder Lektionen an der Seite seines Vaters geben. Ebenso seien Reisen durch die Baronien des Fürstentums geplant, damit seine Hochgeboren Land und Leute, sowie deren Sorgen und Nöte, kennenlernen könne.
Übergroßen Dank sprach die Drachenhainer Familie Ritter Arno von Tauenfeld und Ritter Notker von Golbach, sowie den Magistern der Academie Rei Praeheliotica, aus. Ihnen oblag seit 39 n.A.III Erziehung und Obhut des Prinzen, und fürwahr treffliche Arbeit haben sie geleistet!
Wann genau der Prinz auf der Feste erwartet wird, sei derzeit noch offen. Es heißt, Halmar werde im Winter seine Eltern zur Herrscherbegegnung nach Escandra begleiteten.

Ernte in Rebenhain – der Rundedling betritt die Bühne des Traubenbluts

Wie in einem letzten Botenartikel dargestellt, winkte den Rebenhainer Winzern diesen Herbst eine gute Ernte. Das Wetter machte keine größeren Kapriolen, welche die Ernte beeinträchtigten und daher fiel die Lese auch gut aus.
Nun präsentierten einige Winzer unter Mitwirkung des Haushalts des Barons eine neue Weinsorte: Den Rundedling. Es handelt sich um eine von langer Hand neu gezüchtete Rotweinsorte, die jetzt das erste Mal auf ausreichend großer Fläche angebaut wurde. Wein besticht durch seine Vollmundigkeit, ist fruchtbetont und harmonisch ausbalanciert. Seine Hochwohlgeboren war bei der Präsentation persönlich anwesend, lobte den Erfindungsreichtum und die Hartnäckigkeit der rebenhainer Winzer. „Diese Flaschen werden in weiter Fernen reisen und in vielen Ländern des guten Geschmacks gekauft und gern werden. So mehren wir den Ruhm unseres Ländchens und des Königreichs.“ Dann hob seine Hochwohlgeboren den Becher und alle Anwesenden tranken gern auf das Wohl des Reiches.

Was lange währt, wird endlich gut (?)

Die viel beschworene und immer wieder und immer wieder verschobene Ausrufung des neuen Lehens soll nun endgültig auf Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres stattfinden, voraussichtlich an Siochan oder Mittsommer. Dies bestätigten Baron, Clansoberhäupter und die zukünftige Lehensnehmerin Eylwine von Esclarmond in den Vorbereitungen auf das heligonische Herrschertreffen.
Was in vielen anderen Baronien ein einfacher Verwaltungsakt gewesen wäre, war in Luchnar aufgrund der Hintergründe – ein Lehen tieflandstämmiger Menschen im Hochland – ein Politikum ersten Ranges. Dies war der Hauptgrund der fortwährenden Verzögerung, hinzu kam die Notwendigkeit, das Lehen wirtschaftlich auf weitgehend unabhängige Füße zu stellen.
Letztlich scheint die Verschleppung aber der richtige Weg gewesen zu sein. Zum einen war im letzten Sommer das zukünftige Lehen erstmals wenigstens dicht an der wirtschaftlichen Selbständigkeit. Zum anderen wird die Gründung nun von allen drei Clansoberhäuptern ohne Einwände mitgetragen und alle bis auf die konservativsten Hochländer haben offenen Widerstand aufgegeben. Hierzu trägt sicher auch bei, dass der Segen der Götter offensichtlich auf den wenigen Mischehen wie der von Gisrod von Soilach und Liolyn MadUaine und der von Jerrad MadRuadh und Annerös von Nybelschütz liegt.
Was lange undenkbar und dann lange Streitpunkt und Ärgernis war, könnte nun tatsächlich, zumindest weitgehend, ein Akt von Frieden, Eintracht und Aufbruch werden.

Bienenraub in Apfelstett

Als die Imkerin Pinova Förster zur Mitte des ll. Xurl bei ihren Bienenstöcken auf der Anhöhe hinter dem Garten der Poena zu Apfelstett nach dem Rechten sehen wollte, traute sie ihren Augen nicht: Einer der vier Bienenstöcke, die sie dort seit Jahren gehegt und gepflegt hat, war wie vom Erdboden verschluckt. So schnell ihre alten Beine sie trugen lief sie hinunter ins Dorf und fragte in allen Gehöften nach, ob jemand etwas gesehen oder gehört hätte. Doch niemandem war etwas ungewöhnliches aufgefallen.
Der Schultheiß selbst ging hinauf zum Garten der Poena um nach Spuren zu sehen, doch vergebens. Außer dem Fehlen der Bienenstocks gab es keinerlei Hinweise.
Da es sonst nichts zu tun gab, suchte Pinova auch die anderen Stellen auf den Streuobstwiesen und am Waldrand ab, an denen ihre Bienenkörbe standen. Erleichtert stellte sie fest, dass nur das eine Volk fehlte.
Doch als sie zwei Wochen später erneut ihre Runde drehte, fehlte ein weiteres Bienenvolk, diesmal vom Waldrand. Wieder zwei Wochen später fehlte eines von der Wiese. So beschloss sie, alle Bienenstöcke über den Winter zu ihr nach Hause zu bringen, um keine weiteren Verluste zu erleiden. Im Frühjahr jedoch wird sie sie wieder in den Fluren um das Dorf herum verteilen müssen. Noch weiß sie nicht, wie sie ihre Bienen dann vor dem Diebesgesindel schützen soll.
Noch ist nicht damit zu rechnen, dass dies Auswirkungen auf die Preise für Apfelstetter Met haben wird. Sollte das Rauben jedoch weitergehen, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Keine Mauermiliz auf der Feste Drachentrutz

Energisch schritt Burgvogt Kerstan von Tuachall dem Bestreben mancher Drachentrutzer Bürger entgegen, eine Freiwilligenmiliz wider die „feindlich gesonnenen Angriffen aus dem Süden“ auszuheben. Im kleinen Ratsaal der Handwerkergilde war hierzu am 20. Tag des I. Xurlmondes, 45 n.A.III, eigens eine offene Versammlung anberaumt worden, zu welcher auch der Burgvogt geladen worden war. Verärgerte Augenzeugen berichteten zu Beginn der Veranstaltung von einer Reihe heimtückischer Angriffe auf Leib und Leben harmloser Mauerdienstler, bei deren Ausübung ihrer Wartungspflichten, und listeten Fälle von widerwärtigen Beschmutzungen an den meist südlichen Burganlagen auf.
Schnell wiesen konkrete Anschuldigungen in Richtung der „verdammten antrutzer Pfeffersäcke“ und es fanden grobe, dem hitzigen Moment geschuldete Sühne- und Abwehrmaßnahmen Erörterung. Großen Zuspruch erfuhr da die Idee zur Bildung einer Einheit Freiwilliger, die nächtens mit Knüppeln bewaffnet Patrouillen um die Feste laufen.
Diese und andere Anträge unterband Burgvogt Kerstan jedoch grundsätzlich und in eindringlichem Tone: „Solch einen Unfug wird es auf der Feste nicht geben!“
Mehrnoch drohte er massive Strafen bei entsprechenden Zuwiderhandlungen an, dann würde es „…Auch aus dem Innern der Feste Stockhiebe setzen!“
Allein damit scheint das Problem der Antrutzer-Drachentrutzer Gegensätze jedoch nicht gelöst, Ideen zur grundsätzlichen Klärung der Angelegenheit ließ Burgvogt Kerstan hingegen vermissen.

Glefenbacher Marktwache verstärkt

Nachdem es auf dem Glefenbacher Markt lange Zeit eher beschaulich zuging und die Marktwache in der Regel nicht mehr zu tun hatte, als gelegentlich einem Betrunkenen den Ausgang aus dem Marktflecken zu zeigen, hat der Marktaufseher nun die Mannstärke binnen weniger Monate verdreifachen müssen. Immer wieder kam es in letzter Zeit zu Streit und Pöbeleien, ja sogar zu Diebstahl und mutwilliger Zerstörung.
Zum einen ist das sicher der zunehmenden Bedeutung des Marktes geschuldet, der nun – wie die Märkte in großen Städten schon seit jeher – neben den Händlern und Kunden auch allerlei Gesindel anzieht, das seinen zwielichtigen Geschäften nachgeht.
Zum anderen ballen die Händler immer öfter die Fäuste Richtung Drachentrutz, und beschuldigen die dortige Jugend, immer wieder für vielerlei Aufruhr auf dem Glefenbacher Markte die Verantwortung zu tragen.
Die Marktleute begrüßen die Verstärkung der Wache, obwohl dadurch ihre Abgaben sicher nicht unerheblich steigen werden. Lioba Kornzähler, Urgestein unter den Glefenbacher Händlern und Sprecher der Marktleute, sagte uns dazu: „Der Marktfriede muss gesichert sein, alles Andere verschreckt nur unsere ehrbare Kundschaft. Außerdem sind das nur bedauerliche Einzelfälle. Auf unserem Markt ist jeder sicher. Unsere sechs Marktwachen und der Nachtwächter sorgen dafür und wir von der Marktleutevereinigung unterstützen Sie dabei nach Kräften.“
Hinter vorgehaltener Hand heißt es jedoch auch immer öfter: „Notfalls bauen wir eben eine Mauer um den Markt und lassen die Drachentrutzer dafür bezahlen.“

Kämpfe in Orlatas – bricht die Waffenruhe?

Gerüchte eilen bekanntlich schneller als der Wind, und da die Nachricht vom Bruch des Waffenstillstands zwischen Stueren und der Allianz vermutlich schon in alle Ecken unterwegs ist, erscheint es mir notwendig, die Ereignisse von Orlatas aus erster Hand zu berichten. Den Grund für meine Anwesenheit dort und die religiösen Hintergründe möge der interessierte Leser meiner kurzen Abhandlung über den Borharcônischen Glauben entnehmen.
Dreh- und Angelpunkt der Ereignisse war die geheim gehaltene Anwesenheit Meortes, letzter Sproß der Herrscherfamilie der Borharcôner, gejagt und verfolgt von der Stuerener Besatzungsmacht. Das Kind war von seinem sicheren Zufluchtsort in Heligonia auf Wunsch der Arazsla Atma in seine Heimat gebracht worden. Sie erklärte mir auf meine besorgte Frage hin, dass das Kind als zukünftiger Herrscher schließlich sein Volk und seine Sitten kennenlernen müsse. Einleuchtend und nachvollziehbar, aber auch ein nahezu unverantwortliches Risiko, wie die kommenden Ereignisse zeigen sollten.

Zum einen war während der Feierlichkeiten eine Abordnung Stuerener Wächter anwesend, die alle Handlungen mißtrauisch beobachteten und unmißverständlich klar machten, dass jede Andeutung von Aufmüpfigkeit streng geahndet werden würde. Die meisten Borharcôner bemühten sich sichtlich, diese so deutliche Präsenz der Besatzungsmacht zu ignorieren, dennoch herrschte eine angespannte Atmosphäre. Höhepunkt der Feierlichkeiten war die theatralische Darstellung der letzten Schlacht der Borharcôner gegen Stueren, die in allgemeines Wehklagen über die Niederlage mündete. Sei es, dass sie sich schon vorher verabredet hatten oder nur von der Darstellung mitgerissen wurden, begannen plötzlich einige junge Männer vom Stamm der Lenmeri, die Anwesenden zur Rebellion aufzustacheln. Sie knieten vor Meorte nieder und riefen ihn zu ihrem Kriegsherrn aus. Erschrocken über die plötzliche Aufdeckung des Geheimnisses, versuchten etliche Borharcôner, die Aufrührer zum Schweigen zu bringen. Einer jedoch zog zur Bekräftigung seiner Absichten einen Dolch, stürzte sich auf einen Stuerener Wächter und tötete ihn. Im darauf folgenden Handgemenge gelang einem weiteren Stuerener die Flucht, was die Lage augenblicklich verschärfte.
Obwohl wir, der Orden des Lichts und auch Herr Leonidas von Rabenweil mit Provokationen von beiden Seiten gerechnet und uns auch für alle Fälle in Meortes Nähe aufgehalten hatten, waren wir nicht auf einen offenen Mord gefaßt gewesen, schlimmstenfalls auf eine Prügelei. Mein Versuch einer verbalen Deeskalation scheiterte deshalb auch schlichtweg an der Entschlossenheit des Mörders, vollendete Tatsachen zu schaffen: Als wir das Blitzen des Dolches sahen, war es bereits zu spät.
Wie erwartet tauchte einige Zeit später eine größere Abordnung Stuerener Wächter auf und forderte die Herausgabe Meortes, der wir natürlich nicht stattgaben. Erste Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt werden. An dieser Stelle gebührt ein großes Lob unseren Kämpfern und Bogenschützen, die das Kind tapfer und ausdauernd verteidigten. Leider stellte sich aber auch heraus, dass kaum Heilkundige anwesend waren, was uns immer wieder in größte Schwierigkeiten brachte.
Da wir aufgrund anderer Ereignisse, die noch erläutert werden sollen, gezwungen waren, vor Ort zu bleiben, wurden wir am nächsten Tag wie befürchtet mit Truppen des Roten Jägers konfrontiert. Zwar gingen wir auch hier letztendlich siegreich hervor, doch hätte ein noch längeres Verweilen in Orlatas sicher zu unserer Niederlage und zur Auslieferung oder dem Tod Meortes geführt. Entsprechend froh waren wir, den Ort zusammen mit dem Kind schließlich verlassen zu können.

Die Gründe, die uns zwangen, in Orlatas auszuharren, waren indessen völlig anderer Natur: So tauchte am Abend des Festes plötzlich eine archaisch anmutende Gruppe Krieger auf, die sich als „Blutfalken“ bezeichneten. Auch sie forderten die Herausgabe Meortes, um ihn in ihren eigenen Reihen zu einem der Ihren auszubilden. Die erstaunten Arazslaken erklärten, die Blutfalken seien einst die Garde der Herrscher gewesen und waren wegen ihrer Loyalität und Grausamkeit berüchtigt und gefürchtet. Jedermann wäre froh, dass sie nicht mehr existierten. Was die Krieger aber offensichtlich nicht davon abhielt, nun vor dem Tor zu stehen! Auch ihnen verweigerten wir die Herausgabe Meortes und erhielten dafür ein Ultimatum bis zum Morgen.
Ein Abzug aus Orlatas kam jedoch nicht in Frage, da die Arazslaken übereinstimmend aussagten, die Blutfalken würden Meorte aufgrund seines königlichen Blutes überall hin folgen und finden können. Es erschien uns deshalb sicherer, vorerst innerhalb der schützenden Palisaden zu verbleiben und das Problem vor Ort zu lösen.
Zu unserem Glück nahm ihr Arazsluk ohne das Wissen seiner Truppe Kontakt zu uns auf. Aus seinen Andeutungen schlossen wir, dass die Blutfalken offenbar aus ihrer letzten Schlacht vor etwa 150 Jahren plötzlich hierher versetzt worden waren und nun über den Zustand ihres Volkes entsetzt wären und dies mit der Erziehung Meortes ändern wollten. Es gelang uns leider nicht, Näheres über das Warum und Wie dieser „Versetzung durch die Zeit“ herauszufinden, beziehungsweise wer hinter diesem Plan steckte oder was das Erscheinen genau auslöste. Dies muß leider ein ungelöstes Rätsel bleiben, wenngleich uns die „Feenkönigin“ in den Sinn kam, die uns in Orlatas ja schon einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Am nächsten Morgen erreichten wir mit Hilfe eines alten Borharcôner Brauches ein friedliches Kräftemessen: Es existieren zwölf sogenannte Kleinodien, mehr oder weniger heilige Artefakte aus der Geschichte der Borharcôner. Ihr Besitz untermauert gewissermaßen Recht und Wahrheit streitender Parteien. Den Großteil des Tages verbrachten wir also mit Suchen, Sammeln und Erobern dieser Kleinodien, die auf die verschiedensten Arten erlangt werden konnten, immer im zeitlichen Wettkampf mit den Blutfalken. Tatsächlich schafften wir es, mehr Kleinodien als die Gegner in unseren Besitz zu bringen, und der Anführer der Blutfalken erkannte unseren Sieg an. Weit entfernt von ihrer Zeit und nun jedes Daseinsgrundes beraubt, begann der Anführer, seine ihm völlig ergebenen Gefolgsleute zu töten. Martin Dorn und einige andere boten ihnen hierauf einen ehrenvollen Tod im Kampf an, worauf es zu mehreren Zweikämpfen kam. Die Leichen der Blutfalken wurden in einer bewegenden Zeremonie verbrannt, und dieses dunkle Kapitel der Borharcôner Geschichte damit abgeschlossen.
Was nun den Bruch des Waffenstillstandes anbelangt, so ist dies meines Erachtens schwer zu interpretieren. Einerseits handelte es sich um einen versuchten Aufstand der Borharcôner gegen ihre Stuerener Besatzungsmacht, der sicher geahndet werden wird, zum Schaden aller Borharcôner. Auch die stammesinterne Bestrafung des Mörders wegen Verletzung des Gastrechts dürfte daran nichts ändern. Dies würde jedoch nicht den Waffenstillstand zwischen Stueren und der Allianz berühren. Allerdings waren in Orlatas auch Vertreter der Drachenhainisch-Ostarischen Allianz anwesend und wurden durchaus in die Kämpfe gegen Stueren verwickelt, um Meorte zu schützen. Mehrere Dutzend tote Stuerener auf der Walstatt lassen sich auf beiden Seiten schwer verleugnen. Wenn Stueren einen Grund sucht, den ohnehin brüchigen Waffenstillstand mit der Allianz aufzukündigen, wird es ihn in Orlatas finden.

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