Mit Entsetzen erreichte uns in Sedomee die Kunde vom Einsturz des Bergwerks im Schlangenkamm und selbstverständlich wurden von den aufmerksamen und mitfühlenden Clansfrauen nahe der Grenze auf der Stelle einige Helferinnen und Helfer zur Unglücksstelle entsandt in einem Akt vorbildlicher nachbarschaftlicher Unterstützung.
– Jedoch! Mit ungleich größerem Entsetzen mussten wir Graf Dedekiens augenscheinlich verwirrten Erguss im Heliosboten 84 zur Kenntnis nehmen!
In aller Öffentlichkeit erdreistet er sich, den König aufs Ärgste zu beleidigen und eine ominöse Armee von persönlichen Widersachern heraufzubeschwören. Zu diesem Zwecke die Schuldtürme zu öffnen und deren Insassen angeblich dazu anzuhalten, die öffentliche Sicherheit zu ordnen, kann bestenfalls als unklug bezeichnet werden. Auch ein noch so stark vorgegebener Schmerz ob der Opfer des Unglücks kann hier schwerlich als Entschuldigung herhalten.
Im Namen aller sedomeesischen Landsfrauen und -männer mahnen wir zur Besonnenheit, zur Königstreue und dazu, das Unglück in Darian vollständig aufzuklären, sowie jegliches aufrührerische Verhalten mit größter Wachsamkeit wahrzunehmen und mit angemessener Handlung zu bedenken. Wir erinnern daran, dass die bestehende Gesamtlage, der sich den Göttern sei Dank allerlei kluge und mutige Köpfe mit beherzter Hingabe widmen, den wohlwollenden Zusammenhalt innerhalb des Königreichs, den wir in jahrelanger Vertrauensarbeit geknüpft haben, zur unbedingten Voraussetzung macht für unser aller Wohlergehen. So möge sich Graf Dedekien ein Beispiel an den vorbildlichen heligonischen Nachbarn im Norden und Süden nehmen.
Boten-Teil: Papyros des Südens
im 2. Saarka im Jahr 52 n.A.III
Erstens
Kareema Shivasani von Shamanka in Sedomee veranlasst hiermit die Stiftung einer Patenschaft für die Ausbildung in den traditionellen Künsten und Tanz (keine Improvisation!), aufdass einem jungen Talent mit unzureichenden Mitteln die Ausbildung an der Akademie zuteil werden möge.
Bewerbungen für dieses Stipendium sind innerhalb eines Helioslaufes direkt an die Akademie zu richten, wo von kompetenter Seite eine Vorauswahl getroffen werden wird. Die endgültige Auswahl einer geeigneten Kandidatin oder eines Kandidaten und die anschließende Verleihung des Stipendiums wird in zwölf Moneten Frau Kareema höchst selbst vor Ort vornehmen.
Zweitens
Die Freigräfin Amira Kaela von Sedomee bittet den Kanzler der Akademie um die Richtigstellung diverser Ungenauigkeiten im Vortrag des Gastdozenten Salech ben Anwar nur Eddin.
In diesem Zusammenhang veranlasst ihre Hochgeboren die Entsendung von Gastdozentinnen der Universität zu Marola mit dem Ziel, das Wissen über die valmerianische Kultur im Interesse der qualitätvollen Lehre in Gaberon zu festigen.
Drittens
Die Freigräfin möchte, bezugnehmend auf Punkt 2, anregen, die Gastdozenten – insbesondere so es sich um “fahrende” Barden handelt – mögen vor Antritt ihrer Tätigkeit etwas sorgfältiger hinsichtlich ihrer Eignung an der ehrenwerten Akademie zu lehren, geprüft werden, auf dass der gute Ruf der Akademie gerade in ihren noch jungen Jahren keinen Schaden nehme.
Viertens
Die Universität zu Marola und die Akademie zu Gaberon veranlassen einen Austausch geeigneter Studenten respektive Scholasten. Es sollen weiterhin auch Gastdozenten aus Gaberon die Möglichkeit gegeben werden, die Lehre in Marola oder an der Rakesh Akademie zu bereichern.
Unsere verehrte Freigräfin Arana von Sedomee und Apurien wird auf Wunsch des Königs ihre schöne Grafschaft verlassen und gen Escandra ziehen. Nun wird niemand die Weisheit des Königs in Zweifel ziehen noch die Eignung Aranas von Sedomee für ihr neues Amt als Hohe Richterin. Dennoch möge es erlaubt sein, sich zu fragen, ob nun des Königs Entscheidung wie ein gestoßener Dominostein die Kaskade der folgenden Ereignisse auslöste oder ob sich hier mehrere Ursachen und Anlässe wechselseitig durchdringen.
Der Verzicht auf den Herrschaftsanspruch nach glänzender Regentschaft in der Blüte der Jahre wie bei Arana von Sedomee hat beste Tradition in der Freigrafschaft. Starrherzige und entscheidungsunfähige Greise mögen in anderen Landen an ihrem Throne haften wie der Geruch nach Weihrauch an ihren Predigern; nicht so in Sedomee. Wenn ein solcher Wechsel geplant war, so kann der Zeitpunkt als günstig bezeichnet werden. Denn auch der absolute Verzicht auf die Herrschaft in der Bevorzugung, dem Ruf der Göttin zu folgen hat Tradition und wenn die Tochter der Freigräfin, Larissa von Sedomee nun diesen vernahm, ist es besser, die jüngere Schwester Amira Kaela rasch zu etablieren, bevor diese selbst, bald auch schon Großmutter, einem Alter näher rückt, da ihre eigene Tochter eine Kandidatin für Herrschaft wäre.
Auch die bedeutenden Änderungen im Verhältnis zu Darian, die sich anzubahnen scheinen, mögen die Etablierung eines neuen Gesichts ratsam erscheinen lassen. Wer kann sich vorstellen, wie Arana von Sedomee einem selbstgerechten Manne wie Dedekien von Darian Schritte entgegen geht, die noch vor Jahresfrist undenkbar schienen und die keine offensichtliche Not gebietet? Amira Kaela von Sedomee mag dies sicher leichter tun, ohne deshalb Sedomees feste und wichtige Grundsätze aufzugeben. Eine solche Annäherung könnte noch leichter fallen, wenn Darians Gesicht weniger das des eigengefälligen Grinsens wäre – der Nachbar aus der Wüste möge sich dies überlegen, wenn seine Vorschläge ernst gemeint sind.
Diese überraschende Annäherung gilt es noch näher zu hinterfragen, insbesondere, da sie nicht langsam und tastend geschieht, sondern sehr schnell sehr viel erreichen will. Sind dies die neuen Leitlinien von Amira Kaelas Politik? Dies scheint sehr weitreichend, wo sie ihr Amt doch eben erst übernimmt und kann eigentlich, da sie nicht im vollen Galopp der Erfahrung politischer Jahrzehnte in Marola einreitet, nicht einzige Ursache sein. Oder wird die Geschwindigkeit von Dedekien von Darian bestimmt? Der Graf aus dem Norden greift nach neuen Lehen jenseits der Meere und mag den Frieden an den heimatlichen Grenzen gewahrt haben wollen. Doch droht ihm von der neuen Freigräfin, eine Meisterin der schönen Künste und nicht der des Krieges solche Unbill? Einige blumige Versprechungen und kleinere Gesten wären viel eher nach der Manier des Cersansohnes. Und der bloße Wunsch nach den Münzen für ferne Expeditionen ist in anderen Gegenden Heligonias erfolgsversprechender und weniger zinsenlastig als bei unseren aus Erfahrung und mit Recht misstrauischen Kämmererinnen.
Gibt es also in einer der Grafschaften ein noch unbekanntes Problem, eine drohende Krisis, die zwingt, die Hand rasch und weit auszustrecken? Sollte dem so sein, muss man sich zunächst die geplanten Vereinbarungen und Projekte anschauen, soweit sie bereits offenbart sind. Da stößt man auf den Wunsch Darians, mit unserer Unterstützung in den Ogedenbund einzutreten, auf die – nach Jahrzehnten des Streites – bereitwillige Rückgabe alter Originaldokumente, die der Universität zu Marola gestohlen wurden und in Darbor lagern und gar auf das Angebot der Ausweitung der sedomeesischen Pflege der urogedischen Riten und Bräuche auf den Nordteil des alten Valmera, wo sie einst ebenso galten. Letzter Punkt wäre dem doch eher pekuniär geprägten Glauben des Grafen früher ferner gelegen als ein Nech-Burai fliegen kann.
Sedomee würde also zu Recht seine Sichtweise der Welten deutlich weniger ändern als Darian, was zu dem Schlusse verleiten mag, dass es der entfremdete Vetter aus der Wüste ist, welcher unter uns nicht bekanntem Drucke steht und deshalb bereit ist, bisher undenkbare Zugeständnisse zu machen. Vielleicht aber spiegelt er auch nur eine Fata Morgana auf, als Teil einer ganz großen, perfiden Täuschung.
Oder aber all die Dominosteine fallen durch eine Kraft, die tief unter allem wirkt, was wir erörtern und die wir Uneingeweihten und vielleicht selbst die Mächtigen nicht oder nur vage erahnen.
Den Göttern hat es gefallen, dass es am Hofe zu Marola in naher Zukunft eine neue Freigräfin geben wird.
Ihre Hochgeboren Arana von Sedomee, langjährige Herrin über Sedomee und Apurien und Erwählte der Göttin wird nach dreiundzwanzig Jahren ihre Ämter niederlegen. Somit folgt sie dem Wunsche des Königs, der sie an seinen Hof berufen hat, um Heligonia als hohe Richterin zu dienen. Gen Escandra begleiten werden sie zwei ihrer langjährigen Vertrauten, ihre Hochwohlgeboren Valeria Baronin zu Calena, Schwester der Erwählten sowie beider Cousine, ihre Hochwohlgeboren Nadyma Baronin zu Sebur, welche ihre Regentschaft ebenfalls niederlegen werden.
Die Tochter der Freigräfin, Larissa von Sedomee, selbst eine Erwählte der Göttin und einst als Nachfolgerin ausersehen, ist Poënas Rufe gefolgt und wird sich als Nachfolgerin ihrer Großmutter Mariama von Sedomee ganz der Leitung Heiligtums von Hagiapolis widmen, somit auf die weltliche Herrschaft über die Grafschaft verzichten.
Die neue Regentin wird nach den Willen Seiner allerdurchlauchtigsten Majestät Helos Aximistilius III und in Einvernehmen mit dem Wunsche der Freigräfin selbst wieder aus der Familie von Sedomee stammen. Ausersehen wurde Amira Kaela von Sedomee, die jüngere Schwester von Arana und Valeria von Sedomee. Bisher residierte sie auf einen Gut in der Nähe Marolas und leitete die Weiterentwicklung der musischen Künste am Minnehof der Freigräfin Arana, weshalb ihr in Sedomee klangvoller Name bisher kaum über die Landesgrenzen hinaus bekannt sein dürfte.
Amira Kaela ist wie ihre ganze Familie den Göttern eng verbunden, selbst aber keine Geweihte. Ihre Tochter aus einer frühen Poëna-Ehe wurde hingegen vor kurzem zur Geweihten Poënas berufen.
Nicht mehr über die Vervollkommnung der Künste, sondern über die Geschicke der Grafschaft zu wachen sieht Amira Kaela als überraschende Fügung der Götter, doch fühlt sie sich durch das Vertrauen des Königs und ihres Clans sehr geehrt und freut sich auf ihre neue Herausforderung.
Wer die Nachfolge in den Baronien Calena und Sebur antreten soll, wird die zukünftige Gräfin in den kommenden Monden bekannt geben. Für eine Zeit des gefälligen Überganges werden Nadyma von Sebur und Sedomee und Valeria von Calena und Sedomee noch die Geschicke ihrer Baronien lenken.
Am 08. und 09. Tag des 1. Poena im Jahr 46 n.A.III fand ein erstes diplomatisches Treffen zwischen der Gräfin Abigale Charlotte Grace von Greyshire nebst Gefolge und der Freigräfin Amira Kaela von Sedomee und Apurien in Jalamanra statt. Begleitet wurde die Gräfin von Greyshire von Ihren elorischen Verbündeten Malina zu Wechlin, Markgräfin von Merseburg und ihrem Verlobten Baron Julius Caspar von Rampf, die sich im Moment auf Ihrer Verlobungsreise befinden.
Im Clanhaus des Sedomee Clans fand in behaglicher Atmosphäre ein reger Austausch der Kulturen statt. Waren die werten Gäste sehr von der Fülle der sedomeesischen Speisen beeindruckt, so erfuhren die sedomeesischen Gastgeber von einer ganz besonderen Art, Stammesfehden untereinander zu klären. In Eloria ist es Sitte, bei Streitigkeiten eine sogenannte „Klatschete“ auszurufen. Dabei treffen sich die Kontrahenten mit einem Fisch ihrer Wahl auf einem Baumstamm, um sich diesen dann möglichst kräftig gegenseitig ins Gesicht zu schlagen. Ob und wie weit so ein Brauch in Sedomee Anwendung finden könnte, bleibt allerdings ungewiss.
Am frühen Nachmittag des zweiten Tages drohte die bis dahin angenehme Atmosphäre kurzfristig zu kippen, nachdem in den Räumlichkeiten aus bisher noch nicht geklärter Quelle das sedomeesische Schmierblatt, „Sedomee ungeschminkt“ gefunden wurde.
Zu aller Entsetzen fand sich darin ein Artikel, in dem über die werten Gäste aus Eloria sehr in beleidigender Art und Weise zu lesen war.
Es war der besonnenen Reaktion der Freigräfin Amira Kaela von Sedomee und Apurien zu verdanken, dass die bis dahin vorsichtig geknüpften neuen Bande nicht jäh zerrissen wurden. Sie konnte den Gästen glaubhaft versichern, dass selbst sie regelmäßig Opfer spöttischer Artikel dieses Schmierblatts wird und sie nun alles daran setzt, die Übeltäter dingfest zu machen.
Am Nachmittag wurden dann verschiedenste Waren aus Sedomee und Greyshire vorgestellt und sowohl die Gräfin Abigale Charlotte Grace von Greyshire als auch ihre Hochgeboren Amira Kaela von Sedomee und Apurien äußerten den Wunsch nach weiteren Handelsbeziehungen beider Länder. Genauere Informationen zu den Einzelheiten der Handelsbeziehungen folgen in einem nächsten Bericht.
Einige Mitglieder des Mohabi Clans berichteten über seltsame Erscheinungen in der Wüste Apuriens, nahe einer Oase. Es sollen dort „plötzlich“ fremdländische Pflanzen aufgetaucht sein.
Außerdem kam es an jener Oase zu einem tragischen Unglück, als 10 Ziegen des besagten Clans aus einem Wasserloch getrunken hatten, welches aus bisher unerklärlichen Gründen mit Salzwasser verschmutzt war.
Ihre Hochgeboren, die Freigräfin Amira Kaela von Sedomee und Apurien hat nun zum Schutz der Bevölkerung Folgendes angeordnet.
1. Truppen der Rakesh Akademie werden das betroffene Gebiet weiträumig absichern. Ihren Anweisungen ist in jedem Falle Folge zu leisten.
2. Die Wasserquellen sämtlicher Oasen sollen künftig streng bewacht und mehrmals täglich sorgfältig auf Verschmutzungen jeglicher Art überprüft werden. Ungewöhnliche Vorkommnisse sind sofort der Staatskanzlei in Marola zu melden.
3. Die Clanmitglieder des Mohabi Clans werden für ihren Verlust entschädigt und vorerst an einer neuen Oase untergebracht, bis die Ereignisse lückenlos aufgeklärt sind.
4. Gelehrte der Universität von Marola sind bereits seit einiger Zeit vor Ort und werden die Ereignisse genauer untersuchen.
Nach Rücksprache mit den Gelehrten der Universität von Marola geht ihre Hochgeboren Amira Kaela von Sedomee und Apurien davon aus, dass es sich zwar um ungewöhnliche, jedoch nicht unbekannte Phänomene handelt. Offensichtlich hat die Verschmutzung der Wasserquelle etwas mit alten Salzkristallablagerungen in tieferen Bodenschichten zu tun. Freigräfin Amira ist sich sicher, dass die Vorkommisse aufgeklärt und die Bewohner bald wieder in ihr angestammtes Gebiet zurücksiedeln können.
Nachdem der Handelsgipfel zu Beginn des 1. Poëna im Jahre 46 n.A.III zwischen den Vertreterinnen der Grafschaft Greyshire in Terravino, der Grafschaft Eloria und Sedomee durch einen schockierenden Artikel in der neuesten Ausgabe der Klatschgazette “Sedomee Ungeschminkt – Tavernenklatsch aus Marola” in angespannte Stimmung zu kippen drohte, ließen die Freigräfin und ihre Tochter höchst ungehalten verlautbaren, dass dieses Schmierblatt ab sofort nicht mehr geduldet werde. Es wurden Ermittlungen eingeleitet, um die Verfasserinnen und Verbreiterinnen so schnell wie möglich dingfest zu machen. Mehrere Spuren werden derzeit in Marola verfolgt.
Zitat der Freigräfin: “Der Artikel, in dem scheckliche Gerüchte über einen unserer geschätzten Gäste verbreitet wurden, verletzt die Grundfesten der sedomeesischen Gastfreundschaft. Wir hofften zunächst, über den hiesigen Klatsch Nachricht von ungewöhnlichen Geschehnissen in Sedomee zu erhalten, aber das geht zu weit!”
Unklar bleibt, was mit der kürzlich erstmals aufgetauchten Veröffentlichung “DARIAN EXTREM!” geschehen soll, die eindeutig in dieselbe Kerbe schlägt.
Wem eine Ausgabe von “Sedomee Ungeschminkt” in die Hände fällt, der hat sie umgehend der Staatskanzlei in Marola zukommen zu lassen, und so die weitere Verbreitung zu unterbinden. Zur besseren Identifizierung wird hier das aktuelle Titelblatt der Ausgabe mit dem kontroversen Artikel angehängt.
Ihre Hochgeborene Freigräfin Amira Kaela von Sedomee wird demnächst nach Escandra aufbrechen, um der Einladung Seiner Allerdurchlauchtigsten Majestät, König Aximistilius III nachzukommen.
Begleitet wird die Freigräfin dabei von ihrer Tochter, der Poënapriesterin Thalia von Sedomee, Baronin Shaheena von Sebur und drei ihrer engster Berater.
Die Freigräfin teilte mit, dass sie sich sehr auf den Besuch in Escandra freue, um einerseits die sedomeesisch-heligonischen Beziehungen weiter auszubauen und andererseits ihre geliebte Schwester Arana nach langen Jahren wieder zu sehen.
Arana hat der Freigräfin bereits angeboten, während der Herrscherbegegnung in Ihrem Stadtpalast zu residieren.
Als die Welt noch jung war, hauchte Saarka einigen Geschöpfen mit sanftem Wind Leben ein, auf dass sie ihre Schuld an den Tumulten tilgen möge, die während der Schöpfung der Welt von ihr daselbst verursacht worden waren. So berichten die Ogeden-Priester seit uralter Zeit über die Entstehung der Menschen.
Es gibt Angehörige des Shamanka Clans, jenes Clans in Sedomee, der seit jeher sich um die Pflege des heiligen Haines kümmert, die davon berichten, in der Nähe von Eibenbäumen, bei uns genannt Khashab, eine gewisse Präsenz, ja gar Zuneigung Saarkas – so dies denn möglich ist – zu empfinden. Auch heißt es unter der Landbevölkerung gelegentlich, man solle sich bei Vollmond und ganz besonders in den Nächten rund um die Crelldinornacht nicht unvorsichtig den Eiben nähern und falls es keinen Umweg gäbe, selbst wenn die Gegend einem vertraut wäre, sich lieber vorsichtshalber laut und ehrerbietig vorstellen und angeben, warum man sich nähere. Andernfalls könne man versehentlich in die Unterwelt geraten – ohne Wiederkehr, versteht sich.
Vernehmt nun folgende Erzählung, die da heißt:
Der hundertjährige Eibenbaum
Es war einmal ein hundertjähriger Eibenbaum, der trug sowohl männliche als auch weibliche Blüten, was zu dieser Weltenzeit noch seinem üblichen Wesen entsprach. Diesen Baum besuchten nun regelmäßig Menschen von nah und fern, aus vielen verschiedenen Clans und Sippen, die von ihm gehört hatten, denn der Baum war ein Lehrer.
Er lehrte die Menschen, die zu ihm kamen, die Gaben der Götter zu ehren, ja, sich an ihnen derart zu freuen, dass sie fast wie von Sinnen wirkten oder glaubten, einen flüchtigen Einblick in die Unterwelt erhalten zu haben. Er lehrte sie, die Jahreszeiten zu beobachten, und gleich ihnen stets ihr ehrliches Gemüt zu zeigen, sei es sanft oder tobend, aber einander genauso schnell wieder zu vergeben. Und der Baum lehrte diese Menschen auch, dass die Gemeinschaft des Clans ewiglich besteht und doch ewig im Wandel begriffen ist, denn mehrere Generationen zugleich sind in ihm verbunden im ewigen Kreislauf des Wachsens und Vergehens. Und ganz besonders dies: ein jeder solle alle Clanschwestern und -Brüder gleichermaßen achten, in Vergangenheit bis an den Anfang der Welt und in Zukunft bis an ihr Ende.
Unglücklicherweise begab es sich jedoch, dass mehrere der Sippen, die regelmäßig zu dem Baum gekommen waren, diesen ganz für sich beanspruchen wollten. Eine besonders entschlossene unter ebendiesen schmiedete einen tolldreisten Plan, den Baum auszugraben und in eine Höhle zu setzen, die nur ihnen selbst bekannt sein sollte.
Ein Mädchen namens Nesrin, das es sich zum Brauch gemacht hatte, wegen der abenteuerlichen Träume, die der Baum schenkte, eingerollt zwischen dessen Wurzeln zu schlafen, hörte zufällig einige Worte darüber mit. In ihrem Entsetzen weinte sie heftig und weckte damit auch den Baum aus dem Dämmerschlaf.
“Schwestern verraten Schwestern und Brüder verraten Brüder? Dies ist nicht, weshalb ich in diese Welt gekommen bin und auch nicht, was ihr von mir lerntet!” donnerte die Eibe und rief sogleich die Göttin Saarka um Hilfe an. Diese entfesselte daraufhin einen heftigen Sandsturm, der volle zwei Jahre andauerte.
Als sich die letzten Sandkörner endlich gelegt hatten, sahen die Menschen, dass der Stamm des Baumes nun in zwei gespalten war, von der Krone bis zum Boden, obgleich er noch zu leben schien. Die beiden Hälften aber bogen sich wie in heftiger gegenseitiger Abscheu voneinander weg. Auch die Natur des nun gespaltenen Baumes schien sich vollkommen gewandelt zu haben.
Die eine Hälfte trug hernach stets mehr und saftigere Blätter und Blüten als ihr Gegenüber, da ihre Wurzeln sich nach und nach in Richtung einer bisher verborgenen Wasserader gruben. Auch fand man an dieser Hälfte weiterhin die roten Beeren, die die Menschen vormals als eine der traumschenkenden Gaben geehrt hatten, die nun aber giftig geworden waren und nur noch von Saarkani mit besonderem Wissen angerührt werden konnten. Mit Worten sprechen konnte diese Hälfte ebenfalls nicht mehr, doch besuchten sie einige treue Menschen weiterhin und pflegten sie, da sie den Baum wie eine ihrer Clanschwestern betrachteten.
Die andere Hälfte dagegen konnte sehr wohl noch sprechen, gab nun aber mit einer gewissen Regelmäßigkeit allerhand Gerede bis hin zu düsteren Weißsagungen von sich, was die Menschen verwirrte – wie der Hinweis an einen Bauern, sein Burei leide unter heftigem Husten und bräuchte dringend einen Einlauf – und gelegentlich ängstigte – wie der Ausruf, die dunkle Zeit der Dattelpest stünde unmittelbar bevor. Karg war das Erscheinungsbild dieser Hälfte des Baumes, weshalb einige Menschen versuchten, ihn mit dargebrachten Datteln zu nähren oder mit Bureimist zu düngen. Gierig schien der Baum die Nahrung aufzusaugen und fragte gelegentlich auch nach mehr, verblieb indes aber in dem Zustand wie zuvor. Schließlich begannen die Menschen, die dürren Äste mit allerhand bunten Bändern und glitterndem Tand zu behängen, um den Baum aufzumuntern, da sie ihn wie einen ihrer Clanbrüder betrachteten.
Nesrin, bald zur jungen Frau gereift, schlug ihr Lager in der Nähe der zwei Bäume auf – denn als solche wurde der Eibenbaum nun von den Menschen betrachtet – und wiederholte jedem, der es hören wollte, die Lehren des Baumes an die sie sich erinnern konnte Wort für Wort.
Eines Nachts fiel ihr während sie schlief eine der Beeren in den Mund, doch sie erwachte erst am Morgen und es war bereits zu spät. Ihr Körper schüttelte sich vor heftigen Krämpfen und bevor sie starb erzählte sie den Menschen, die ihr zu Hilfe geeilt waren, unter großen Mühen noch von dem letzten Traum, den ihr geliebter Baum ihr geschenkt hatte:
Sie hatte alle Clans und Sippschaften erblickt, die den Baum in seinem langen Leben aufgesucht hatten und diese formten ein endloses Band bis zum Horizont und an den Rand der Weltenschale. Daraufhin hatte sie eine Vision der zwei Baumhälften erblickt, die sich, zunächst zaghaft, dann immer deutlicher aufeinander zubewegten um sich schließlich wieder wie zu einem Stamm ineinander zu verwinden, woraufhin die Zweige sich sogleich in üppiges Grün wandelten, über und über mit Blüten und Beeren besetzt. Gleichzeitig hatte die junge Frau die Stimme der Eibe vernommen, die die Menschen gemahnte dieses endlose Band zu ehren. Die Stimme prophezeite, dass goldene Zeiten des Überflusses und des Segens anbrächen, sobald dies in den Herzen der Menschen ihren Platz gefunden habe.
Seit dieser Zeit nun ist allgemein bekannt, dass die Eibe, eine der von uns hochgeschätzten Baumarten, ebenso wie die Menschen sich stets in einem dieser beiden Zustände des Körpers oder des Gemüts in der Welt zeigt, als da wären männlich oder weiblich.